Es war einer dieser quälenden Tage im Brandenburger Landtag. Manfred Stolpe hatte wieder und wieder Antworten auf Fragen der Abgeordneten zu seinen Stasi-Kontakten in der DDR gegeben. Als RUNDSCHAU-Korrespondent kam ich zu der Einschätzung: Alles nicht neu. Es schien alles gesagt zu sein, höchstens noch nicht von jedem. Brandenburgs Ministerpräsident hatte stets eingeräumt, als Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche in der DDR diese Kontakte genutzt zu haben, um vor allem ausreisewilligen DDR-Bürgern zu helfen. Er sprach von einer „Schublade“, in der Stasi-Mitarbeiter offenbar die abgeschöpften Gespräche mit ihm archiviert und ihn als IM (Informeller Mitarbeiter) „Sekretär“ geführt hatten. Eine Verpflichtungserklärung für die Stasi gab es nicht.

Der disziplinierte Preuße

Wer im Osten gelebt hatte, konnte die Argumentation des DDR-Kirchenmannes größtenteils nachvollziehen. Doch die Sicht aus dem Westen schien sich auch zum Ende der ersten Legislaturperiode des Landtages 1994 davon grundsätzlich zu unterscheiden. Im Bayerischen Rundfunk endete zu dieser Zeit ein Kommentar mit der Aufforderung: „Herr Stolpe, treten Sie zurück.“ Doch diese Rechnung war ohne den disziplinierten Preußen Stolpe gemacht. Denn er trat nach der politischen Wende nicht für die SPD an, um beim ersten Gegenwind klein beizugeben. Den vielen unter den Umbrüchen dieser Zeit leidenden Brandenburgern und Ostdeutschen hat er mit dem eigenen Beispiel versucht, Mut zu machen. Er ist für einen differenzierten Umgang, für die Einzelfall-Prüfung von Stasi-Kontakten eingetreten. Im Landtag verabschiedete die Ampelkoalition aus SPD, FDP und Bündnis 90 Kriterien zum Umgang mit dem Thema im ganzen Land.
Für mich war der Fall Stolpe damals Anlass, meine Stasi-Akte bei der Gauck-Behörde zu beantragen. War ich womöglich auch in eine Schublade geraten? Als junger Sportler sollte ich im SC Cottbus angeworben werden. Doch ich sagte in einem „ konspirativen“ Gespräch in der damaligen Mokka-Milch-Eisbar, dass ich meine Kumpel nicht bespitzeln wollte. Die Absage fand ich neben mehr als ein Dutzend IM, die über mich berichteten, in den Unterlagen.

Stolpe und die „kleine DDR“

Einen undifferenzierten Umgang mit der DDR-Vergangenheit konnte Manfred Stolpe auch in dem von politischen Gegnern als „kleine DDR“ bezeichneten Brandenburg nicht überall verhindern. Aber es begann ein Umdenken und ein genaueres Hinsehen. Mehr konnte und wollte Stolpe wohl auch nicht erreichen. Dass die SPD in der zweiten Legislaturperiode (1994 bis 1999) vom Wähler mit einer absoluten Mehrheit (54,1 Prozent) ausgestattet wurde, war eine Reaktion auf die zum Teil unwürdigen Angriffe auf ihren Regierungschef. Er lebte es vor, als Ministerpräsident für die Menschen da zu sein – auch in seinem Cottbuser Wahlkreis in Sachsendorf. Die Beliebtheit im Land kannte keine Grenzen. Und wenn es kompliziert wurde im politischen Alltag, zitierte er immer wieder den von ihm geliebten Theodor Fontane mit den Worten: „Am Mute hängt der Erfolg.“
Den hat es in Stolpes Regierungszeit auch gebraucht, um das Land voranzubringen: Hunderte Millionen D-Mark flossen nach 1990 in die Ausweisung von Gewerbegebieten im ganzen Land. Der Bau des Lausitzrings in der Klettwitzer Tagebaufolgelandschaft wurde mit mehr als einer Viertelmillion Fördermitteln unterstützt. Genauso mutig war die Entscheidung für Brand (Dahme-Spreewald) als Standort einer künftigen Luftschiff-Produktion. Dass viele Gewerbegebiete leer blieben und Großprojekte scheiteten – oder einer anderen, durchaus lukrativen Nutzung zugeführt wurden – musste Manfred Stolpe verkraften. Besonders weh getan hat ihm aber, dass 1996 die Fusion der Länder Berlin und Brandenburg an seinen Märkern gescheitert ist. Dabei hatte er sich für dieses, aus seiner Sicht unverzichtbare Zukunftsprojekt, vehement engagiert.

Stolpe der Mutmacher

Die Zeit als DDR-Kirchenmann, als Brandenburgs Regierungschef und auch als vom Krebs heimgesuchter Privatmann – dieser Manfred Stolpe war in all seinen Lebensabschnitten davon beseelt, Menschen in schwierigen Lebensphasen Mut zu machen. So hat er in seinem über 15 Jahre andauernden Kampf gegen Krebs nie geklagt. Vielmehr wollte er mit seiner Einstellung zur Krankheit und dem öffentlichen Umgang anderen Betroffenen helfen. Noch 2018 wird er mit den Worten zitiert: „Ich konzentriere mich nicht auf meine Leiden, sondern versuche, das Nötige zu tun.“ Seinen 83. Geburtstag im Mai beging er allerdings nur im engen Familienkreis. Für Interviews war er zu schwach geworden. Nach Medienberichten soll sein Darmkrebs seit 2008 gestreut haben. Was ihn lange nicht davon abhielt, immer wieder neue Pläne zu schmieden. Doch jetzt musste er gehen. Ein stolzer Brandenburger, der für immer einen Platz in den Geschichtsbüchern seiner Mark Brandenburg gefunden hat.