Das war kein guter Start ins Leben. Am 23. Juni 2023 ist in Hohenleipisch einer von zwei Jungstörchen von seinen Eltern aus dem Nest gestoßen worden. Der noch kleine Vogel ist auf dem Boden aufgeschlagen und liegen geblieben.
Monika Prothmann (67) aus der Nachbarschaft hat das dramatische Ereignis beobachtet. Sie findet den jungen Adebar. Er liegt absolut regungslos da und scheint tot zu sein, so ihre erste Vermutung. Dann das Wunder. Als am Abend noch einmal nachgesehen wird, bewegt sich das Tier doch tatsächlich.
Schnell wird klar, dass zügig gehandelt werden muss. Mit der Familie Kretzschmann wird der Storch in eine mit Heu gefüllte Kiste gelegt und mit Katzenfutter versorgt. Weitere Hilfe könnte eine Fachfrau geben: Petra Wießner, ehrenamtliche Weißstorchbetreuerin beim Naturschutzbund (Nabu). Sie wird verständigt und bringt das geschwächte und wahrscheinlich auch verletzte Tier zur Auffang- und Pflegestation für geschützte Wildtiere nach Reddern bei Altdöbern. Dort wird in der Folge alles getan, um sein Leben zu retten. Später heißt es: „Das war seine einzige Chance.“ Es soll der erste Storch aus dem Raum Hohenleipisch gewesen sein, der dort versorgt wurde.
Weißstorchbetreuerin kennt die Absturzursachen
Ist der Jungstorch nun aus dem Nest gefallen oder tatsächlich gestoßen worden? „Unter Störchen und auch bei anderen Vogelarten ist es üblich, dass aus verschiedenen Gründen nicht überlebensfähige Jungtiere aus dem Nest geschubst werden. Dabei spielen Krankheiten, die körperliche Verfassung und das allgemeine Nahrungsangebot eine Rolle. Die Störche merken, dass es manche Jungtiere nicht schaffen werden. Meistens überleben sie den Sturz nicht“, erklärt Petra Wießner.
Jetzt, nach mehr als zwei Monaten intensiver Pflege, hat der herangewachsene Jungstorch sein Startgewicht von mindestens drei Kilogramm für die Reise nach Afrika erreicht. „Er könnte jederzeit mit anderen Artgenossen in einer Gruppe starten“, erklärt Gernod Heindel (61) aus Reddern. Zusammen mit seiner Frau Steffanie und derzeit mit Praktikantin Runa-Liv Serowka (18) päppelt der Revierförster vom Revier Neupetershain auf seinem Grundstück verletzte Wildtiere auf.
Begonnen hat er damit bereits in seinem 18. Lebensjahr. Eine Kohlmeise war seine erste Patientin. Dann kamen andere Singvögel hinzu, später auch Greifvögel und Säugetiere. Inzwischen habe die Familie geschätzt mehr als 5000 Tiere aus 180 verschiedenen Arten versorgt. Darunter seien 450 Weißstörche und etwa 1100 Igel gewesen. Und das alles ehrenamtlich. Aber die Probleme nehmen zu. Die allgemeinen Preiserhöhungen und die Arztrechnungen hätten bedenkliche Ausmaße angenommen.
In Reddern geht es wie auf der Arche Noah zu
Die Familie möchte dennoch weiterhin in Not geratenen Wildtieren helfen. Selbst auszubrütende Eier und Schlangen sind schon abgegeben worden. Überall auf dem Grundstück schnattert, fiept, pfeift, piepst, zirpt oder hoppelt es. Ein Wüstenbussard und ein Uhu, beide Dauergäste, beobachten die Szenerie ganz genau. Derzeit werden etwa 170 Tiere betreut. So ähnlich muss es auf der biblischen Arche zugegangen sein.
Grundsätzlich werden alle Wildtiere aufgenommen. Sogar ein kleiner Dammhirsch ist hier schon gelandet. Etwa 85 Prozent der gesundheitlich angeschlagenen oder verletzten Tiere überleben, während sie in der unbarmherzigen Natur kaum eine Chance hätten. Auch der Babystorch aus Hohenleipisch hat sich so gut entwickelt, dass er seine Reise mit anderen Artgenossen in den Süden antreten kann. Gernod Heindel berichtet, dass der Jungvogel extrem untergewichtig und flugunfähig angekommen sei. Er sei zunächst mit dem angefüttert worden, was auch in der Natur zu finden ist.
Die Ausflugszeit der Jungstörche beginnt Ende Juli. Nachzügler und Alttiere starten zwei Wochen später und in den Tagen darauf. Die Starts in kleinen Gruppen ziehen sich bis weit in den September hin. „Wir versuchen, unsere Störche bis Mitte September fit zu bekommen. Bei Schäden am Gefieder oder bei fehlender Kraft müssen einzelne Tiere bei uns überwintern“, erklärt Gernod Heindel.
Störche ahnen, wenn das Flugwetter gut wird
Wer dem Wetterbericht nicht traue, brauche sich nur einen Zugvogel anzuschauen. Die Störche können die Großwetterlage weitaus besser analysieren, als der Mensch, um den passenden Moment für den Start in den Süden abzupassen. „Die sind intelligenter als wir“, weiß Gernod Heindel. Über die Westroute und die Ostroute würden bis zu 10.000 Flugkilometer vor den Störchen liegen. Ob ein Storch Westzieher oder Ostzieher ist, sei ihm gewissermaßen einprogrammiert worden.
Stimmen die Wetterverhältnisse, starten sie einfach auf dem Grundstück, um sich dann mit Artgenossen mit der Thermik nach oben zu schrauben. Störche, die das wärmer werdende Klima auf diesem Kontinent erkannt haben oder üppige Nahrungsquellen entdecken, überwintern auch im Süden Europas.
In Hohenleipisch gibt es seit 2017 erstmals wieder einen Jungstorch, der den Horst an der Kirche bereits verlassen hat. Sein Geschwisterchen, der in Reddern aufgepäppelte Storch, kommt in der örtlichen Statistik, die auf einer Tafel am Nest geführt wird, allerdings nicht vor.
Was tun bei einem Wildtierfund?
Wer ein verletztes Wildtier findet, der sollte weitere Verletzungen vermeiden und sich auch selber nicht verletzen lassen. Das Tier in einen Karton legen oder in eine Decke wickeln. Dann die Tierauffangstation in Reddern anrufen (Telefon 035434 898) und fragen, wie man weiter vorgehen soll.
Kleine Tiere können auch in einer Wildtierklappe am Hoftor in der Hauptstraße 3 in Reddern abgegeben werden. Gernod Heindel unterhält Kontakte zu Tierparks, Zoos und Tierärzten, wenn es kompliziert werden sollte.