Von Andrea Hilscher
Seit fünf Jahren ist der frühere Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) Vorstandsvorsitzender des Deutsch-Russischen Forums, seit fünf Jahren wirbt er um mehr Verständnis für Russland und seinen Staatschef Wladimir Putin. Am Donnerstag spricht Platzeck im Cottbuser Wirtschaftsraum vor mehr als einhundert Gästen über Fragen des Völkerrechts, über die Nato-
Osterweiterung und Handelssanktionen.
Platzeck, der nach eigenen Aussagen jeden Monat in Moskau unterwegs ist, spricht zunächst eindringlich über das, was er eine explosive Lage nennt, die ihm derzeit den Schlaf raube. Selbst zu Zeiten des Kalten Krieges wusste man immer, wie sich die Welt entwickeln würde. Heute weiß das kein Mensch. Staaten wie Ungarn, Polen oder die Türkei würden demokratische Prinzipien infrage stellen, die amerikanische Gesellschaft habe sich derart verändert, dass Trump nur ein Symptom, nicht aber das Übel selbst sei.
In Russland dagegen, so sagt Platzeck, seien zahlreiche positive Entwicklungen zu beobachten. Während die Bevölkerung unter Boris Jelzin in den 1990er-Jahren immens gelitten habe, sei es unter Putin aufwärts gegangen. Putin bringt Ordnung, Stabilität und Ruhe ins Land, sagt Platzeck. Und wer das urmenschliche Bedürfnis nach Sicherheit erfüllt, dem verzeiht man vieles. Dieses Verständnis aber vermisse er auf Seiten des Westens. Es gibt zu wenig Kontakte. Es bräuchte deutlich mehr Schul- und Städtepartnerschaften, um sich gegenseitig kennenzulernen. Das Publikum klatscht begeistert Beifall: Kaum einer, der nicht in der Schule Russisch gelernt hat und das Land aus eigener Anschauung kennt.
Denis Kettlitz, Moderator des Abends, hakt ein und fragt nach der Bewertung von Putins Plan, das Internet für Russland vom weltweiten Netz abzukoppeln. Dazu sagt Platzeck nichts, wirbt aber um Verständnis für die russische Seele, für das aufkommende Gefühl des Wir sind wieder wer und über den Wunsch des Ostens nach mehr Dankbarkeit. Ohne Gorbatschow hätte es keine Einheit gegeben, auch den bedingungslosen Abzug aller russischen Soldaten aus dem Gebiet der früheren DDR sollten wir schätzen, sagt Platzeck. Er fordert vom Westen etwas, das er Maßstäblichkeit nennt.
Heißt: Wer die Annexion der Krim sanktioniert, der solle auch bedenken, was die Amerikaner im Irak gemacht haben. In diesem Zusammenhang spricht er auch von dem Eingreifen des Westens im Kosovo. Eine Gleichsetzung, die später am Abend auch von vielen Gästen aufgegriffen wird obwohl sie schwer haltbar ist. Beides, darüber sind sich Experten der Außenpolitik einig, hat gegen bestehendes Völkerrecht verstoßen. Im Fall des Kosovos aber war das Eingreifen des Westens motiviert durch den Massenmord von Milosevic, der in der Ukraine keine Entsprechung hat.
Auf diesen Einwurf einer anwesenden Journalistin reagiert der SPD-Mann gelassen. All das könne man hundertfach nachlesen, Kritik an Russland müsse man nicht wiederholen. Ihm gehe es mehr darum, die russische Perspektive zu beleuchten, um so für Verständnis zu werben. Wir erfahren alles über kritische Demonstrationen in Russland, aber über das moderne Land im Osten erfahren wir nichts. Im Übrigen solle man sich immer die schiere Größe des Landes vorstellen. Das lässt sich vielleicht auch gar nicht anders als autokratisch regieren.
Allerdings, das betont der frühere Ministerpräsident: Russland müsse Vertrauensarbeit leisten, damit die baltischen Staaten weniger Angst vor einer Übernahme haben. An den Westen gerichtet, schlägt Platzeck eine neue Sicherheitsarchitektur vor, die auf Vertrauen basiert. Er greift einen Vorschlag auf, der schon seit Jahren in Expertenrunden diskutiert wird: Die EU, Moskau und die Ukraine sollten einen Weg suchen, wie die Ukraine als Staat mit Scharnierfunktion zwischen Ost und West organisiert werden kann als Mitglied der EU, nicht aber der Nato. So könnten Russlands Interessen gewahrt bleiben, schätzt Matthias Platzeck. Denn, so seine Einschätzung, Putin würde niemals zulassen, dass sein Zugriff auf den Mittelmeerzugang Sewastopol eingeschränkt wird. Das wäre eine Lösung, die Russland akzeptieren könnte und Deutschland sowie die EU wieder enger an Russland heranrücken ließe, schlägt der Politiker vor.
Ein solches Vorgehen ist aus seiner Sicht unumgänglich, wenn Europa sich gegen die neuen Weltwirtschaftsmächte im pazifischen und amerikanischen Raum behaupten will. Für seinen Schlusssatz gibt es Beifall. Russland kann man nicht verstehen, an Russland muss man glauben.
Aber er hätte auch über die Menschen sprechen müssen, die verfolgt und unterdrückt werden, die darf man nicht ausblenden, so eine Besucherin.