Zoe Ulyanchuk hat sie im Winter per Post in ihre neue Wohnung in Cottbus erhalten: eine weinrote Bluse mit weißen, reich bestickten Blumen, geschickt von einer Freundin aus der Ukraine. Als die 38-jährige Frau sich an den Kaffeetisch setzt, sagt sie: „Ich trage sie zu besonderen Anlässen.“ Wie am 18. Mai 2023, am Wyshywanka-Tag, dem Tag der ukrainischen Nationaltracht. Dieser Tag wird international von der ukrainischen Gemeinschaft gefeiert.
„Die gestickten Muster werden zu heiligen Symbolen, die den Träger der Kleidung mit früheren Generationen verbinden“, erklärt Maya Lukashova, die einen Umzug durch Cottbus organisiert hat. Für die Ukrainer ist eine Wyschywanka ein Talisman, denn in den wunderschönen Ornamenten sind Symbole für Wohlbefinden, Schönheit, Gesundheit, Stärke und die Liebe zum eigenen Land. „Das ist unser materielles Kulturerbe.“
In diesem Jahr hat die patriotische Veranstaltung noch eine stärkere Bedeutung. „Es ist der Anlass, noch einmal daran zu erinnern, dass Russland im Zuge seines Angriffskrieges gezielt ukrainische Kulturwerke zerstört oder wegnimmt“, fügt Lukashova hinzu.
Für Zoe, die zugestimmt hat, nach der Parade ein Volkslied zu singen, symbolisiert ihre Wyschywanka auch die Verbindung zu ihrem Leben vor dem Krieg.
Organisatoren gehören zu den ersten Flüchtlingen in Cottbus
Am 1. März 2022 floh sie mit ihrer Tochter aus ihrer Stadt, zwei Stunden von der belarussischen Grenze entfernt. Einen Tag später wurde die Stadt von den Russen bombardiert. Zoe und ihre Tochter waren in Sicherheit, schon in Polen.
Sie trafen Freiwillige aus Cottbus im Sportzentrum, wo sie die erste Nacht verbrachten. Mit ihnen fuhren sie nach Deutschland, während in Polen immer noch Flüchtlinge ankamen. Nach einem Monat im Hotel konnten sie in eine eigene Wohnung in der Lausitz umziehen. Heute lernt Zoe Deutsch und setzt ihr Psychologiestudium im Fernstudium fort.
„Es war wie ein Sprung in die Dunkelheit ohne Fallschirm. Man weiß nicht, was passieren wird. Aber viele europäische Hände haben uns aufgefangen und uns die Möglichkeit gegeben, uns zu integrieren“, erzählt sie dankbar.
In Berlin mussten Neuankommende aus der Ukraine monatelang in Gemeinschaftsschlafräumen des Ankunftszentrums warten, bis sie eine Wohnung oder auch nur ein Hotelzimmer bekamen. In Cottbus ging alles schneller.
Ukrainer in Cottbus
In Cottbus lag das Aufnahmesoll für Menschen im Asylverfahren und geduldete Flüchtlinge im Jahr 2022 bei 1.120 Menschen. Die Stadt hat dieses Soll nach eigenen Angaben „erfüllt und übererfüllt“.
Derzeit leben rund 1.600 Menschen aus der Ukraine in Cottbus, sagt Oberbürgermeister Tobias Schick (SPD). Die Aufnahmekapazitäten in Schulen, Kindertagesstätten und im Gesundheitswesen seien erschöpft. Nach dem Flüchtlingsgipfel im Mai erhalten die Länder vom Bund eine Milliarde Euro zusätzlich für die Integration von Flüchtlingen im Jahr 2023.
Stickereien werden zum patriotischen Symbol
Zoe legt eine weitere, kleinere Bluse auf den Tisch. Ihre Mutter hat sie ihr in den 70er oder 80er Jahren gekauft, sie weiß es nicht mehr genau. Jetzt trägt sie ihre Tochter. Die Motive, Blumen, deren Blütenblätter symmetrisch in einem Kreuz angeordnet sind, symbolisieren die Felder, die für eine neue Ernte bereit sind. Diese Muster wurden per Hand aufgestickt.
„Meine Mutter brachte mir bei, wie ein Profi zu sticken. Die Rückseite muss genauso schön sein wie die Vorderseite, man darf nicht sehen, wo die Stickerei anfängt und wo sie aufhört“, erzählt sie. Die am besten ausgearbeiteten Stickereien können monatelange Arbeit bedeuten. Deswegen werden heute viele Kleidungsstücke industriell bestickt, wie die weinrote Bluse, die Zoe trägt.
Viele ukrainische Flüchtlinge haben ihre Wyschywanka mitgebracht, erzählt Anna Novikov, die am Interdisziplinären Zentrum für Ostseeforschung der Universität Greifswald über neue Nationalismen, interkulturelle Kunst, Kleidung und visuelle Studien in Europa und Russland forscht. Diese Kleidung sei zu einem Symbol der ukrainischen ethnischen Identität geworden, das West- und Ostukrainer, Russisch und Ukrainisch sprechende Ukrainer vereint.
Diese Bewegung hat ihre Ursprünge im 19. Jahrhundert. Zu der Zeit wurden Volkstrachten in ganz Mittel- und Osteuropa als nationalistische Symbole ästhetisiert. „In der Ukraine war der berühmte Schriftsteller Ivan Franko der Erste, der diese Wyschywanka die ganze Zeit mit einem Anzug getragen hat. Und das war ein Symbol von Patriotismus“, sagt Novikov.
Die Idee des Wyshywanka-Tages, an dem alle ein traditionelles Hemd tragen sollen, wurde 2006 von einer Studentin der Czernowitz-Universität vorgeschlagen. Zwei Jahre nach der Orangen Revolution und den massiven Demonstrationen gegen den Einfluss Russlands auf die interne Politik der Ukraine wurde die Idee immer stärker verbreitet und getragen.
Seitdem wird die Aktion an jedem dritten Donnerstag im Mai wiederholt. „Es sollte ein Tag in der Woche sein, an dem die Menschen diese Hemden in der Universität, in der Schule und bei der Arbeit tragen, um zu zeigen, dass es normal ist“, sagt Anna Novikov. Mit der Annexion der Krim im Jahr 2014 und den russischen Angriffen auf die Ukraine im Jahr 2022 ist die Popularität dieses Tages noch gestiegen.
Der unfreiwillige Plan für eine Zukunft in Deutschland
Für Zoe sind solche Begegnungen mit anderen ukrainischen Flüchtlingen auch eine moralische Hilfe. Sie befürchtet, dass der Krieg noch mehrere Jahre dauern wird. Auch wenn andere schon wieder in die Ukraine zurückkehren wollen, bereitet sie sich darauf vor, ihr Leben hier wieder aufzubauen.
„Die Ukraine wird immer in meinem Herzen bleiben. Aber es besteht eine große Chance, dass ich hier bleiben muss“, sagt sie. „Es ist schwer, aber ich lerne, es zu akzeptieren, um weiterzukommen.“
In einem Jahr wird sie ihren Bachelor in Psychologie abgeschlossen haben. Vielleicht wird sie danach mit Flüchtlingen in Deutschland arbeiten, um ihnen zu helfen, das Trauma, das sie selbst erlebt hat, zu überwinden.