Herr Meier, es macht nicht den Eindruck, als habe irgend jemand außer den Europäern ein Interesse an der Rettung des INF-Vertrages zum Verbot landgestützter Mittelstreckenwaffen. Sehen Sie noch eine Chance für ihn?

Meier Er gilt nach seiner Kündigung noch sechs Monate lang. Es gibt verschiedene Ideen, den INF-Vertrag in dieser Zeit zu retten, zum Beispiel durch die Einbeziehung weiterer Atomwaffenstaaten, Chinas, Indiens oder Pakistans. Man könnte auch eine Zone einrichten, in der keine Partei als erste Mittelstreckenwaffen stationieren darf – etwa vom Ural bis zum Atlantik. Die Chancen für eine Erweiterung und Anpassung werden allerdings geringer, wenn man den Vertrag erst mal aufgelöst hat. Denn wenn die beiden größten Atommächte aussteigen – wo sollte dann der Anreiz für die anderen sein, daran mitzuwirken?

In den vergangenen Jahren rückt durch die Entwicklung kleiner, präziser Atomwaffen deren tatsächliche Anwendung wieder in den Bereich des Möglichen. Gilt Abschreckung nicht mehr als Hauptziel der Atomwaffenstrategie?

Meier Im Gegensatz zur zweiten Hälfte der 1980er-Jahre, als der INF-Vertrag zustande kam, gelten Nuklearwaffen heute eher als Prestigeobjekt, die Einsatzszenarien weiten sich aus, sowohl in den USA als auch in Russland. Rüstungsverträge aus der Vergangenheit sieht man eher als Fesseln, die man loswerden will. So paradox es klingt: Gerade durch die Schaffung neuer Einsatz­optionen versuchen beide Seiten, die Abschreckung glaubwürdiger zu machen. Das ist sehr gefährlich, weil die Schwelle zum Einsatz sinkt.

Dieser Tage wird vielfach an den Nato-Doppelbeschluss von 1979 erinnert. Würde ein Ansatz wie damals – Stationierung von Atomwaffen in Westeuropa, gepaart mit einem Gesprächsangebot an Moskau – wieder funktionieren?

Meier Damals war das Ergebnis 1987 der INF-Vertrag. Die Chancen dafür, dass sich Geschichte wiederholt, stehen hier schlecht. Michail Gorbatschow und Ronald Reagan waren sich seinerzeit der Gefahren der Hochrüstung sehr bewusst. Das sind Wladimir Putin und Donald Trump ganz offensichtlich nicht.

Hätte Deutschland überhaupt einen Einfluss darauf, den Vertrag noch zu retten?

Meier Natürlich. Deutschland hat als Betroffener und Nato-Mitglied Einfluss. Ganz wichtig ist es auch, dass das Bündnis zusammen agiert.

Warum?

Meier Weil das Ziel Russlands ist, über das Thema Nachrüstung die Nato zu spalten. Entscheidungen über eine mögliche Nachrüstung müssen gemeinsam getroffen werden. Und man muss auch die Amerikaner in die Pflicht nehmen, hier nicht etwa allein zu handeln oder mit einzelnen Nato-Staaten eine Stationierung auf deren Territorium zu vereinbaren. Scheitern alle diplomatischen Bemühungen, kann man auch militärisch reagieren, ohne den INF-Vertrag zu verletzen.

Und auf welche Weise?

Meier Nicht symmetrisch einfach nachrüsten, sondern zum Beispiel auf konventionelle, nichtnukleare Raketensysteme setzen, die ebenfalls Reichweiten von 1000 Kilometern haben und auf Flugzeugen stationiert werden können. Ein solches System hat Polen sehr zum Ärger Moskaus schon angeschafft. Diese Raketen sind sehr präzise und können ebenfalls eine Abschreckungswirkung entfalten. Es geht darum, die sogenannte erweiterte Abschreckung an der Seite der USA sichtbar zu stärken. Es wäre auch denkbar, weitreichende Waffen der USA zeitweise in Europa zu stationieren, etwa auf U-Booten, Langstreckenbombern oder im Zusammenhang mit Manövern.

In zwei Jahren läuft mit dem „New start“-Vertrag auch der letzte Rüstungskontrollvertrag zwischen Russland und den USA aus. Und dann?

Meier Dann wären wir zwischen beiden Großmächten im Blindflug. „New start“ ist der letzte nukleare Rüstungskontrollvertrag, der noch Inspektionen vor Ort vorsieht sowie den regelmäßigen Austausch von Informationen. Fiele er weg, hätten wir eine Situation, die wir das letzte Mal in den 1960er-Jahren hatten. Das wäre ein erheblicher Sicherheitsverlust.

Mit Oliver Meier
sprach Stefan Kegel