Turbulente Wochen für Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg: Die neue Raketenkrise fordert auch den Bündnis-Chef. Doch der 59-jährige Norweger gibt sich beim Interview in seiner Residenz im Brüsseler Stadtzentrum gelassen. Die Sicherheitslage werde zunehmend unvorhersehbar, aber die Nato habe sich der Lage angepasst und sei stärker geworden, sagt er.

Herr Generalsekretär, wie bedrohlich ist der Bruch des INF-Abrüstungsvertrags für Europa? Rückt die Gefahr eines Atomkriegs wirklich näher?

Stoltenberg Der INF-Vertrag ist seit Jahrzehnten ein Eckpfeiler der europäischen Sicherheit. Er ist so wichtig, weil er nicht nur die Zahl von Atomwaffen reduziert hat, sondern mit den Mittelstreckenraketen eine ganze Kategorie solcher Waffen abgeschafft hat. Atomwaffen sind gefährlich. Wenn wir jetzt durch Russlands Vertragsbruch mehr solcher Waffen haben, heißt das nicht, dass ein militärischer Angriff gegen einen Nato-Staat bevorsteht. Aber diese Waffen schaffen eine größere Unsicherheit in Europa.

Was macht sie so riskant?

Stoltenberg Die Mittelstreckenraketen, die Russland entwickelt und stationiert hat, sind mobil, schwer zu entdecken, sie können europäische Städte erreichen – und die Vorwarnzeit ist sehr kurz. Diese Unvorhersehbarkeit ist gefährlich: Sie senkt die Schwelle für jeden Einsatz von Nuklearwaffen in einem Konflikt. Das macht uns so besorgt. Aber die Nato will kein neues Wettrüsten.

Russland hat nun selbst den Ausstieg aus dem Vertrag angekündigt. Was kann die Nato tun, um den Vertrag zu retten?

Stoltenberg Nach der Ankündigung der USA, sich aus dem Vertrag zurückzuziehen, hat Russland noch sechs Monate Zeit, den Vertrag wieder einzuhalten. Wir rufen Russland erneut auf, diese Gelegenheit zu nutzen. Ein Vertrag, den nur eine Seite respektiert, funktioniert nicht. Die Nato wird weiter daran arbeiten, den Vertrag zu erhalten und die Rüstungskontrolle zu stärken. Wir werden dazu Initiativen prüfen. Und wir werden mit Russland weiter sprechen. Wir begrüßen auch die Initiative, die Deutschland mit der Abrüstungskonferenz im März ergreift.

Außenpolitiker der Koalition in Berlin haben als Kompromiss vorgeschlagen, Russland solle seine Raketen so weit nach Osten verlegen, dass sie Europa nicht erreichen könnten. Im Gegenzug sollten die USA ihre Raketenabwehrstellung in Rumänien für russische Kontrollen öffnen – Russland wirft den USA ja wegen dieses Raketensystems umgekehrt Vertragsbruch vor. Wäre das eine Lösung?

Stoltenberg Es muss beim völligen Verbot dieser Mittelstreckenraketen bleiben. Die hoch mobilen Raketen könnten sonst sehr schnell vom Osten in den Westen Russlands gebracht werden. Was die angesprochenen amerikanischen Raketen angeht: Es sind unbewaffnete Abwehrraketen, sie sind defensiv. Das ist etwas völlig anderes. Die USA verletzen den Vertrag nicht.

Nach der US-Ausstiegsankündigung haben Sie erklärt, es gebe in der Nato nicht die Absicht, Mittelstreckenraketen in Europa zu stationieren. Aber wenn der Vertrag scheitert, droht der Nato doch eine Zerreißprobe: Polen plädiert schon für neue Atomwaffen, Deutschland ist dagegen. Was wird passieren?

Stoltenberg Die Nato hat über Jahre bewiesen, dass sie in dieser Frage sehr geschlossen ist. Wir müssen jetzt die militärischen Konsequenzen aus der Stationierung neuer russischer Raketen prüfen. Wir werden uns dazu verschiedene Optionen anschauen, die sicherstellen, dass wir eine glaubwürdige Abschreckung und Verteidigung haben.

In einer Vereinbarung mit Russland hat die Nato 1997 zugesagt, in Osteuropa keine Atomwaffen oder dauerhaft größere Kampftruppen zu stationieren. Muss diese Nato-Russland-Grundakte  mit der neuen Lage überprüft werden, ist sie hinfällig?

Stoltenberg Nein. Aber es ist an der Zeit für Russland, die Vereinbarung vollständig zu erfüllen. Eine der Kernverpflichtungen ist, die Grenzen aller Staaten in Europa zu respektieren. Und der Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt. Das hat Russland im Fall der Ukraine offensichtlich nicht getan.

Haben Sie eine Erklärung, warum Russland die neuen Raketen stationiert?

Stoltenberg Russland hat mehrmals seine Abneigung gegen den INF-Vertrag erklärt, weil er ihm Waffen verbietet, die Länder wie China, Indien, Pakistan oder Iran entwickelt und stationiert haben. Aber das ist keine Entschuldigung für Vertragsverletzungen. Im Gegenteil: Es muss Anlass sein, diesen Abrüstungsvertrag zu stärken und mehr Partner einzubeziehen.

Nächste Woche geht es beim Nato-Ministertreffen auch um die Steigerung der Verteidigungsausgaben. Die Alliierten müssen berichten, wie sie spätestens in fünf Jahren das Zwei-Prozent-Ziel erreicht haben wollen. Wie ist der Stand?

Stoltenberg Alle Nato-Alliierten haben die Kürzungen gestoppt und steigern ihre Verteidigungsausgaben wieder. Im Vergleich zu 2016 werden die europäischen Staaten und Kanada bis Ende 2020 ihre Ausgaben um knapp 100 Milliarden USD [etwa 90 Milliarden Euro] erhöht haben. Ich begrüße diese deutliche Steigerung.

Deutschland wird das gemeinsame Ausgabeziel von zwei Prozent der Wirtschaftsleistung weit verfehlen. Die Regierung meldet ein Ziel von 1,5 Prozent – sogar das ist wegen eines Haushaltslochs nun in Gefahr. Kann die Nato das hinnehmen?

Stoltenberg Ich erwarte, dass alle Alliierten tun, wozu sie sich verpflichtet haben. Deutschland hat begonnen, den Verpflichtungen nachzukommen und die Ausgaben zu erhöhen. Deutschland muss diesen Weg jetzt auch fortsetzen. Ich verstehe, dass das nicht einfach ist und Staaten lieber in Gesundheit, Bildung oder Infrastruktur investieren. Aber wir müssen mehr in unsere Sicherheit investieren, wenn die Welt unsicherer wird. Wir werden mit den Verteidigungsministern nächste Woche in Brüssel sicher über die Lastenteilung sprechen.

Die EU steht vor einem Beschluss für einen Verteidigungsfonds, der Milliardeninvestitionen für europäische Rüstungsprojekte vorsieht. Parallel gibt es Forderungen nach einer europäischen Armee. Haben Sie nicht Sorge, dass da eine neue Mini-Nato entsteht?

Stoltenberg Ich begrüße alle europäischen Verteidigungsbemühungen. Der neue Fonds kann wie andere Initiativen dazu beitragen, die Zersplitterung der Verteidigungsindustrie zu überwinden, die Steigerung der Ausgaben zu fördern, Fähigkeiten zu verbessern. Aber es ist wichtig, dass dies ergänzend zur Nato passiert und nicht in Konkurrenz zu ihr. Ich glaube an die EU. Aber nicht als Alternative zur Nato. Europäische Sicherheit hängt von der transatlantischen Bindung ab. Die EU sollte auf keinen Fall die Botschaft übermitteln, dass sie allein handeln kann. Nach dem Brexit werden die Bündnis-Partner außerhalb der Europäischen Union 80 Prozent der Nato-Verteidigungsausgaben tragen.

Mit Jens Stoltenberg
sprach Christian Kerl