Der Soziologe Hans Bertram sieht zwei Risikogruppen für Kinderarmut: Alleinerziehende und Migrantenfamilien. Er fordert, dass der Staat gezielter Hilfen anbietet. Die RUNDSCHAU sprach mit dem früheren Professor der Berliner Humboldt-Universität und Mitautor mehrerer Studien für das Kinderhilfswerk Unicef.
Herr Bertram, was macht eine gute Kindheit aus?
Bertram Eine gute Kindheit setzt zunächst einmal voraus, dass ein Kind mindestens eine Person hat, die sich bedingungslos mit ihm verbunden fühlt. Allerdings sollte hinzu kommen, dass die Umgebung des Kindes so gestaltet sein muss, dass es seine Fähigkeiten auch entwickeln kann.
Durch ein gutes Angebot an Kindertagesstätten und Schulen zum Beispiel?
Bertram Ja, auch. Aber Kinder müssen sich ganz allgemein gut in ihrer Umgebung bewegen können. Im Buch Emil und die Detektive von Erich Kästner laufen die Kinder noch kreuz und quer durch die Großstadt. Das ist heute kaum noch möglich.
Wie könnte man mehr Freiräume für Kinder schaffen?
Bertram In den großen Städten ist das sehr schwierig. Nicht umsonst ziehen ja viele Familien mit Kindern in die Umlandgemeinden, weil dort die Kinder bessere Bewegungs- und Spielmöglichkeiten haben.
Welche Rolle für eine glückliche Kindheit spielt die finanzielle Ausstattung der Familien?
Bertram Vergleicht man die Bundesrepublik mit anderen europäischen Ländern, muss man zunächst einmal sagen, dass es den deutschen Kindern relativ gut geht, wenn man den Durchschnitt der Familien betrachtet, und zwar gleichermaßen in den neuen wie in den alten Bundesländern. Das liegt daran, dass wir in der Bundesrepublik inzwischen eine extrem hohe Beschäftigungsquote haben. Wenn beide, Vater und Mutter, arbeiten, reicht das in der Regel für ein angemessenes Leben für Kinder aus. Lebt aber jemand ohne Partner, wird es oft knapp. Dieses Problem ist seit Langem bekannt und noch immer nicht gelöst. Ich halte das für einen Skandal.
Was sollte der Staat tun?
Bertram Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Die eine ist: Man schafft im Steuerrecht das Ehegattensplitting ab und führt wie in Frankreich ein Familiensplitting ein, bei dem alle profitieren, die Kinder haben. Die relative Armut von Kindern von Alleinerziehenden könnte man dadurch halbieren. Eine weitere Möglichkeit wäre: Man führt eine negative Einkommenssteuer ein, die Alleinerziehende mit keinem oder einem geringen Einkommen wesentlich besser stellen würde als derzeit. Auch eine Kindergrundsicherung wäre eine Variante da habe ich keine Präferenzen. Hauptsache, man hilft da, wo es in unserer Gesellschaft nicht funktioniert.
Welche Kinder sind noch armutsgefährdet?
Bertram Kinder in Migrantenfamilien zum Beispiel. Im Ruhrgebiet und teilweise auch in Berlin und Hamburg ist die relative Kinderarmut auch deshalb so hoch, weil dort viele Familien mit ausländischen Wurzeln leben. In Ostdeutschland ist das Problem ein anderes: Da führt eher der relativ hohe Anteil an Alleinerziehenden zu Problemen.
Gehört die Möglichkeit, Mitglied in einem Sportverein zu werden oder ein Musikinstrument spielen zu können, zu den Grundrechten eines Kindes?
Bertram Ja. Das im Jahr 2011 eingeführte Bildungs- und Teilhabepaket ist da eigentlich schon ein guter Ansatz. Nur stören daran zwei Dinge: der enorme bürokratische Aufwand, der notwendig ist, um die Leistungen in Anspruch zu nehmen. Und es wird davon ausgegangen, dass jede Region, jede Gemeinde und jeder Stadtteil das gleiche Angebot für Kinder bereithält. Das ist aber nicht so.
Daraus ergibt sich die Herausforderung: Wie stelle ich sicher, dass es in den benachteiligten Gegenden die gleichen Möglichkeiten gibt wie in den besseren Gegenden?
Was wäre denn aus Ihrer Sicht die oder eine Lösung?
Bertram Oft sind es die einfachen, ganz praktischen Dinge, die weiterhelfen. So könnte man zum Beispiel in dünn besiedelten Gebieten beispielsweise Kinder mit Bussen zu den Orten fahren, an denen Sport- und Kulturangebote bestehen. Das wäre ein erster Schritt.
Mit Hans Bertram
sprach Michael Gabel