Nebel liegt zwischen den Bäumen. Lichtstrahlen dringen durchs Dickicht. Mal blau, mal Rot, mal grün. Tiefe Bässe lassen den Boden vibrieren. Wenn all das in einem unscheinbaren Stück Forst bei Göritz zusammenkommt, ist klar: Die Wilde Möhre hat ihre Pforten geöffnet. Seit diesem Freitag ruft der Zauberwald wieder. Und die Waldgeister ließen sich nicht lange bitten. Sie kommen mit viel Glitzer im Gesicht und extravaganten Outfits, die mal fantastisch ausgefallen sind, mal der Fantasie kaum noch etwas übriglassen.
Knapp 4000 Besucher werden es an diesem Wochenende wohl werden. Sie verwandeln eine sonst eher beschauliche 800-Seelen-Gemeinde inmitten der Strukturwandel-Region Lausitz in ein Happening voll Techno und Theater, Tanz und Performance, Kleinkunst und Bildungsangeboten. Wer über das Gelände streift – an diesem Eröffnungstag bei bestem Wetter –, wandelt durch ein kulturelles Panoptikum. Ein Spielplatz für Erwachsene.
Festival mit Sauna und Abklingbecken
Während im Dunst der Nebelkanonen zu elektronischer Musik getanzt wird, läuft anderorts in einer zum Hörsaal umfunktionierten Scheune ein Vortrag über Künstliche Intelligenz. Dazwischen wird wahlweise Tischtennis gespielt, an der Bar Nachschub geholt, beim Kiosk die Tabakvorräte aufgestockt, Burger oder Gyros bestellt – selbstverständlich vegan – oder sich einfach nur der Strapazen des Alltags entledigt. Für letzteres steht sogar eine Art Spa bereit, Sauna und Abklingbecken inklusive. Gerade heißt es allerdings Warten bis zum nächsten Aufguss.
Anders als große Festivals lockt die Wilde Möhre nicht mit berühmten Headlinern. Es wird bewusst auf Newcomer gesetzt. Die Running Order, die auf anderen Open Airs den Takt der Massen vorgibt, ist in Drebkau eher zweitrangig. Viele Besucherinnen und Besucher dürften die vertretenen Acts ohnehin (noch) nicht kennen.
Im Zauberwald der Wilden Möhre ist Flanieren angesagt
Entsprechend entspannt geht es zu. Niemand muss die Uhr im Auge behalten oder gar sprinten, um noch rechtzeitig diese eine Band zu sehen. Dass hier absolut kein Handy Empfang hat, entschleunigt zusätzlich. Statt digitalem Dopamin-Rausch ist im Zauberwald Flanieren angesagt. Man lässt sich treiben – über das Gelände genau wie durchs Programm.
Mag sein, dass manche im verwinkelten Festivalgelände dabei verloren gehen. Besonders da nach Einbruch der Dunkelheit viele der verschlungenen Waldwege zum Labyrinth geraten. Doch halb so wild. Aufgehoben fühlt man sich trotzdem. Immerhin hat jede noch so kleine Ecke etwas zu bieten, sei es eine Kunstinstallation, eine Hängematte oder eine Theaterbühne.
Selbst in Belgien hat die Wilde Möhre Fans
„Man ist hier in der Natur und alles ist sehr entspannt“, weiß auch Juliana an der Wilden Möhre zu schätzen. Die Hamburgerin ist bereits zum zweiten Mal hier. Ihr Freund Leon, ein Wilde Möhre-Neuling und sonst eher Festivals wie das Airbeat One mit seinen über 200.000 Besuchern gewohnt, sieht es genauso: „Man merkt den Unterschied schon. Ich gehe auch gern auf große Festivals, aber das hier ist schon sehr relaxed.“
Die überschaubare Größe der Wilden Möhre ist für einige Besucher sogar ein entscheidendes Kriterium. So auch für Sarah und Liam, die extra aus Brüssel angereist sind. Und das schon zum zweiten Mal. Dabei seien sie noch nicht einmal Fans elektronischer Musik, gesteht die gebürtige Irin Sarah. „Ich mag die Kreativität und die Sauberkeit hier. Es ist eine entspannte Atmosphäre. Das gibt es nicht oft“, sagt sie. Auch im nächsten Jahr wollen die beiden wieder den Weg aus Belgien auf sich nehmen.
Über allem liegt dabei der Charme der Improvisation
Tatsächlich erinnert die Wilde Möhre ein wenig an ein Dorf oder eine Kommune. Sogar eine Art Dorfplatz mit Feuerstelle gibt es. Über allem liegt dabei der Charme der Improvisation. Schräge Holzbauten, bemalte Schiffscontainer als Bühnenbild, liebevolle Deko und Kunstinstallationen wohin das Auge auch blickt. Fast täuscht die Leichtigkeit des Zauberwaldes über die Anstrengungen, die seine Ausgestaltung erfordert.
„Dass wir nach zehn Jahren noch hier stehen und so eine fette Veranstaltung auf die Beine stellen, das bläst mich weg“, sagt Wilde Möhre-Gründer Alexander Dettke. „Ich ziehe meinen Hut vor allen, die hier mitmachen.“ Insgesamt 200 Mitarbeitende sind das Wochenende über um einen reibungslosen Ablauf des Festivals bemüht. Nimmt man alle Veranstaltungsreihen, die zur Wilden Möhre zählen, kommen noch einmal doppelt so viele Helferinnen und Helfer hinzu.
Eine Woche später folgt der Maskenball
Das Konzept der Wilden Möhre veränderte sich in den vergangenen Jahren – notgedrungen. Um den Zauberwald während der Pandemie nicht vollständig dicht machen zu müssen, teilte sich das Festival in mehrere Veranstaltungen und mit ihm die Zahl der Besucherinnen und Besucher. Zwar wird Letztere heute nicht mehr durch Verordnungen begrenzt, dennoch blieb das Festival beim Veranstaltungsreigen an mehreren Wochenenden. Los geht es in diesem Jahr mit Klimperkiste und Seelenschaukel. Nächste Woche findet der Maskenball statt.
Je nach Betrachtungsweise fand der Auftakt für das Wilde Möhre-Jahr 2023 aber bereits statt. Und zwar in Form des Prærie Festivals, das Ende Juli zum exzentrischen Tanz nach Debkau geladen hatte. Die beiden Open Airs taten sich in diesem Jahr zusammen. Der Grund? Die Kosten. Denn egal ob Personal, Material für die Bühne, Gagen oder Energiepreise – besonders kleine Festivals leiden unter dem gestiegenen Kostendruck. Durch die Fusion gelang es den Veranstalter, die Ticketpreise weitestgehend zu halten.
Auch künftig machen Wilde Möhre und Prærie Festival gemeinsame Sache
„Eine organisatorische Herausforderung“, nennt Alexander Dettke den Zusammenschluss. Das ursprünglich brandenburgische Prærie Festival musste für ihn extra aus Mecklenburg zurück in die Mark ziehen, die Wilde Möhre wiederum ihren Start um ein paar Wochen nach hinten verlegen. Auch in Zukunft will man gemeinsame Sache machen. „Wir schmelzen zusammen, das funktioniert auch sehr gut“, sagt Dettke. „So kommt auch nochmal viel neue Kreativität hinein, das ist sehr bereichernd.“
Der Zauberwald wird also auch künftig erwachen – und vermutlich wieder scharenweise feiernde Waldgeister anlocken. Jene, die dort gerade ausgelassen in die Nacht tanzen, wirken jedenfalls ordentlich verzaubert.
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