Katharinas Jacke klebt so fest an seinem Hemd, dass Hans sie mit Mühe abreißen muss. So geht es auch dem ungleichen Liebespaar, das sich immer wieder trennen will, aber nicht kann – während um sie herum ihr Land ins Schlingern gerät. Das ist eine von vielen treffenden Szenen, mit denen im Staatstheater Cottbus der Roman „Kairos“ auf die Bühne kommt. Dessen Autorin Jenny Erpenbeck erhielt am Premierenabend in Chemnitz den Stefan-Heym-Preis.

Das Publikum wird mit Ost-Werbesprüchen empfangen

„Wirst Du zu meiner Beerdigung kommen?“ Mit diesem Hammer-Satz beginnen Buch und Bühnenfassung. Die hat Hausautor und Co-Schauspieldirektor Armin Petras geschrieben, Regie führt Fania Sorel.
Auf der Kammerbühne stehen vier Wohnboxen, je zwei aufeinandergestapelt, mit Gardinen verhängt. Die Zuschauer werden mit Ost-Werbesprüchen empfangen, die Filmchen dazu waren vorher im Foyer zu sehen. Damit sind Ort und Zeit bestimmt: Mitte der 1980er Jahre in der DDR, im Zeichen des Gottes des günstigen Augenblicks, Kairos.
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Den nutzen auch Katharina und Hans, als sie in Ost-Berlin unversehens aufeinandertreffen, staunend, zögernd, sogleich verliebt. Für das, was dann folgt, nutzt die Regisseurin einen Kunstgriff, der gut aufgeht: Denn hier sind es zwei Katharinas, die ältere (Sigrun Fischer), die in und aus der Erinnerung spricht, und die jüngere (Nathalie Schörken), die alles gerade erlebt. Zwischen beiden Hans (Ingolf Müller-Beck), mit gewollt schief sitzender Intellektuellen-Brille und Lederjacke, die jünger macht. Er ist 34 Jahre älter als die 19-jährige Katharina. Doch das bleibt nicht der einzige Problempunkt zwischen beiden.
Trotz Altersunterschied kommen sich Katharina und Hans näher.
Trotz Altersunterschied kommen sich Katharina und Hans näher.
© Foto: Frank Hammerschmidt/dpa

Keine reine Nacherzählung von Jenny Erpenbecks Buch

Mit diesem Kniff gelingt der Regie das Wichtigste: Jenny Erpenbecks Romanfiguren lebendig, erlebbar zu machen, das reine Nacherzählen zu vermeiden. Da gibt die Ältere Stichworte und Ratschläge, die ihr selbst nicht geholfen haben, „souffliert“ auch mal statt des Souffleurs in der ersten Reihe. Die Jüngere spielt, fühlt und wütet ihre damaligen Gedanken und Augenblicke. Da pendelt sie mit Hans in einer der Wohnboxen vor und zurück, Bild des Gleichklangs zwischen ihnen. Hans dagegen hangelt sich an den Stäben des Hauses entlang, als könnten sie ihm Halt geben. Und die Zigarette, an der er sich immer wieder festhält, bleibt fast bis zum Ende unangezündet.
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Wie wacklig die Liebesgeschichte von Anbeginn ist, zeigen diese Sätze: „Wir dürfen uns nicht unglücklich machen“, wünscht sich Hans. „Wir sind schon mittendrin“, kontert Katharina. Denn da ist noch Hans Ehefrau samt Sohn, die er nicht verlassen will oder kann, und da ist das Land, das zunehmend ins Schlingern gerät. Natürlich geht die Bühnenfassung im Geschwindschritt durch den knapp 400 Seiten umfassenden Roman, doch das Wesentliche erlebt der Zuschauer und auch einige Verschiebungen durch die Bearbeitung.
"Kairos" basiert auf dem gleichnamogen Roman von Jenny Erpenbeck.
„Kairos“ basiert auf dem gleichnamogen Roman von Jenny Erpenbeck.
© Foto: Frank Hammerschmidt/dpa

Im Westen sieht Katharina nur Konsum und Sexshops

Als Katharina zu Omas 70. Geburtstag in den Westen reisen darf, bewundert sie fassungslos den Kölner Dom. Die vorangestellte Szene eines fiesen Grenzers, der sein bisschen Macht ausspielt, ist so lang wie überflüssig. Als aber die DDR der BRD beitreten muss, was auch so formuliert wird, sieht Katharina im Westen nur Konsum und Sexshops, illuminiert von heftig flackerndem Rotlicht.

„Kairos“ am Staatstheater Cottbus – Termine

● Samstag, 8. April, 19.30 Uhr
● Freitag, 19. Mai, 19.30 Uhr
● Sonntag, 4. Juni, 19 Uhr
● Samstag, 24. Juni, 19.30 Uhr
Aufgeführt wird „Kairos“ in der Kammerbühne Cottbus (Wernerstraße 60, 03046 Cottbus).
Tickets sind hier erhältlich.
Und so pendelt die knapp zweistündige Aufführung zwischen plakativen und poetischen Momenten. Da liest Hans seinen Brief vor, den er gerade schreibt, Katharina spricht ihn lesend nach. Aber es werden auch DDR-Ikonen von Ernst Busch bis Heiner Müller gefeiert, dessen Berliner „Lohndrücker“-Inszenierung gehört eine ganze Szene.

Eine Inszenierung nicht frei von Klischees

Aber von Hans gibt es auch gestotterte „Mitläufer“-Gedanken, nicht nur, weil er als junger Mensch in der HJ war.
Da bleiben Bearbeitung und Inszenierung nicht frei von Klischees. Eher leise Fragen, die Jenny Erpenbeck auch stellt, haben es da schwer. Etwa, wie Freiheit denn aussieht, aussehen soll. Und warum nur den Ostdeutschen „die Schädeldecken geöffnet werden“ und tief hineingeschaut wird, kommt hier gar nicht vor. Und während das Land zerfällt, bekommt auch die Liebe zwischen Katharina und Hans Risse, immer wieder, immer mehr. Da kann auch der Rückblick der Älteren nichts heilen.

Stefan-Heym-Preis für Jenny Erpenbeck

Die Schriftstellerin Jenny Erpenbeck (56) ist am Samstag (1. April) mit dem internationalen Stefan-Heym-Preis ausgezeichnet worden. Erpenbeck setze sich kritisch mit brisanten und aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinander und präsentiere diese in einer klaren und verständlichen Literatursprache, begründete das Kuratorium seine Entscheidung. Der im Opernhaus Chemnitz verliehene Preis ist mit 20.000 Euro dotiert.
In ihrer Arbeit bringe die Schriftstellerin immer wieder auch ihre ostdeutsche Vergangenheit und Wendeerfahrung in den literarischen und gesellschaftlichen Diskurs ein. So halte sie das Gespräch und das Verständigungsbemühen zwischen Ost und West lebendig, hieß es.
Erpenbeck wurde 1967 in Ostberlin geboren. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit stehe die kritische Reflexion der gegenwärtigen Gesellschaft mit ihren historischen und kulturellen Bezügen, begründete das Kuratorium die Preisvergabe. Ihre Werke wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Aus ihrer Feder stammen Romane wie „Heimsuchung“, „Aller Tage Abend“ und „Kairos“. dpa