Er hat ein Wandertagebuch geführt, in dern 1990er Jahren. Und beschreibt, wie er durch die Dörfer und Wälder geht, sich an seine Kindheit erinnert - aber auch, dass er Schüsse hört ganz in der Nachbarschaft. 1999 hört er auf mit dem Tagebuch - da ist es ihm auch in den Wäldern zu gefährlich geworden.
Die 1977 in Zrenjanin geborene serbische Regisseurin Natasa Urban wollte mit ihrer Vergangenheit und der ihres Landes eigentlich nichts mehr zu tun haben - bis sie das Wandertagebuch ihres Vaters fand. Aus der Konfrontation der politischen Situation mit ihren Kindheitserinnerungen, aus der Auseinandersetzung mit ihren Eltern, Verwandten, Freunden und deren Erinnerungen – oder deren Weigerung, sich zu erinnern – ist ein eindrucksvoller, anrührender, immens politischer Filmessay geworden, einer, der nicht urteilt und nicht verurteilt, aber gleichwohl in jedem Dialog deutlich macht, wie unendlich schwierig es ist, Verantwortung zu übernehmen und sich einer nationalen Schuld zu stellen.
Wandern während das benachbarte Vukovar belagert wurde
Natasa Urban experimentiert mit Super-8 und 16-Millimeter, um die Ebenen der Vergangenheit und Gegenwart zu unterscheiden, schickt ihren Vater noch einmal auf die Reise, befragt ihre Großmutter und ihre Tanten. Die Fotos, die die Familie beim Wandern zeigen, lassen die Tochter im Nachhinein fassungslos, weil sie inzwischen weiß, was in der Zeit im benachbarten Vukovar geschah.
Sie sind alle nur zu verständlich, die Erinnerungslücken, die durch Traumata oder Verdrängung entstehen. Und doch ist es unendlich schmerzhaft mitzuhören, wie der Vater sich nicht erinnern will, ja nicht einmal wahrnehmen will, wie viele Tote es in Srebrenica gab. Oder wie die Tochter den Ort ihrer glücklichen Kindheit bei den Großeltern nicht mit dem Kriegsgefangenenlager zusammenbekommt, das zur gleichen Zeit im gleichen Ort existierte.
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Die Metapher der Sonnenfinsternis, die Natasa Urban für ihren Film gewählt hat, ist eine höchst passende Klammer: Der Film beginnt mit der Sonnenfinsternis von 1961, die die Menschen fasziniert beobachten, wissend, dass die nächst Gelegenheit erst über dreißig Jahre später kommen wird. Als es dann 1999 so weit ist, existiert der Staat Jugoslawien nicht mehr, und die Menschen verbergen sich in einer Art kollektiven Hysterie vor den angeblich krankmachenden UV-Strahlen, lassen Rolläden herunter und verbergen ihre Balkons hinter Bettlaken. Es ist nicht nur das Licht der Sonne, vor dem sie alle zurückschrecken.
Ein ganzer Ort schwärmt für Peter Handke
Einen höchst anderen Blickwinkel wählt der direkt im Anschluss programmierte Film „Waiting for Handke“ von Goran Radovanovic. Im Zentrum steht Velika Hoca, die serbische Enklave im südlichen Kosovo, über die der Nobelpreisträger Peter Handke ein Buch „Die Kuckucke von Velika Hora“ schrieb und der er einen Teil seines Ibsen-Preisgeldes spendete. Was in dem 450-Seelen-Ort zu einer Art kollektiver Handke-Hysterie geführt hat. Der örtliche Weinbauer, bei dem der wegen seiner proserbischen Haltung höchst umstrittene Nobelpreisträger auf der Treppe sitzend den lokalen Wein trank, will eine Dankestafel stiften und sucht einen Bildhauer, der bereit ist, sie zu gestalten, der Dorfakkordeonist komponiert schon mal ein Lied extra für den avisierten Handke-Besuch, und in der Schule müssen die verbleibenden fünf Kinder Handke-Porträts kopieren. Doch dann wird Handke im Kosovo zur Persona non grata erklärt und mit den Plänen ist es vorbei.
Die Straße endet an der nächsten Ecke
Das ist so kurios wie rührend in der konsequenten Ausblendung der Außenwelt – dass die Handyverbindung im Ort so schlecht ist, dass man nur von der auf einem Hügel gelegenen Kapelle Kontakt zur Außenwelt aufnehmen kann, ist eine Art Running Gag und höchst bezeichnend. Im Verlauf des Jahres wird das Projekt Handke-Gedenktafel für Velika Hora so eine Art „Warten auf Godot“.
Man wünscht den wenigen Kindern, die auf den immer leeren Straßen Autofahren lernen und an der nächsten Kurve immer umkehren müssen, weil die Welt dort zu Ende ist, dass sie irgendwann diesen Ort verlassen. Bis dahin singen sie stolz patriotische Lieder über das historisch so bedeutende Velika Hora.
Dass das alles jedoch nicht nur harmlose Schwärmerei, sondern ernsthafter politischer Konflikt ist, zeigen nicht nur die zerschlagenen Grabsteine des Friedhofs von Velika Hora. Goran Radonanovic, der 1957 in Belgrad geborene Regisseur, der in Velika Hora schon 2015 seinen Spielfilm „Enklave“ drehte und schon mehrfach in Cottbus zu Gast war, versteigt sich in der anschließenden Publikumsdiskussion zu einem Vergleich der bombardierten serbischen Städte mit der heutigen Ukraine und sorgt damit für einen kleinen Festival-Eklat. Das „Reden, reden, reden“, das Festivalleiter Bernd Buder als Motto ausgegeben hatte, kommt da doch an seine Grenzen – erst Recht an einem Tag, der als Ukraine-Tag angeküdigt war.
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