Von Rüdiger Hofmann

Mit der zehnten Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch verabschiedet sich das Philharmonische Orchester des Cottbuser Staatsatheaters in diesen Tagen in die wohlverdiente Sommerpause. Es dirigiert Michael Wendeberg, der sich – wie schon einige Kollegen vor ihm – für das Amt des Generalmusikdirektors bewirbt. Seit 2016 ist Wendeberg erster Kapellmeister an der Oper Halle. Als Pianist kann sich der 45-Jährige Preisträger mehrerer Wettbewerbe nennen, als Gastdirigent ist der aus Ebingen von der Schwäbischen Alb stammende Wendeberg bei renommierten Orchestern und Ensembles jederzeit sehr gefragt.

Nun also Schostakowitsch. Nicht seine berühmteste Sinfonie (das wäre sicher die siebente, die Leningrader, während der Belagerung der Stadt im Zweiten Weltkrieg entstanden), aber eine historisch Bedeutsame allemal. Schostakowitsch hat unter der Herrschaft des Stalin-Regimes gelitten – und die Erfahrungen dieser Zeit in der Sinfonie aus dem Jahr 1953 verarbeitet. Uraufgeführt in Leningrad am 17. Dezember 1953, neun Monate nach Stalins Tod.

Das Orchester steigt mit tiefen Streichern ein, Unheilvolles kündigt sich an. Beklemmung und Bedrohung. Erinnerung an ein Terrorregime. Stalin, der Stählerne. Dieses Gift, das Schostakowitsch dickflüssig in das Werk hineinkomponiert, ist die in Töne gefasste Angst des Komponisten. Unter der Überschrift „Chaos statt Musik“ hatte das Sowjetregime schon 1936 den Daumen über Schostakowitsch gesenkt. Der Verriss in der Zeitung Prawda, wahrscheinlich von Stalin selbst verfasst, war der Beginn einer Reihe von Demütigungen für den damals 30-jährigen Komponisten.

Der über 20 Minuten dauernde, depressiv anmutende Stirnsatz (Moderato) mit seinen zu Beginn aus den Streicherbässen aufsteigenden, schmerzlich-düsteren, oft chromatischen Themen steigert sich zu peinigenden, vom Schlagzeug untermauerten Höhepunkten, bevor er wieder in sich selbst zusammensinkt.

Geradezu sensationell gelingt dem Cottbuser Orchester der zweite Satz. Marschrhythmen, Trommelschläge und dissonante Blechbläserakkorde erzeugen eine Klangsprache der Brutalität. Stalin, der Tyrann. In extremem Kontrast zum ersten Satz bricht das kurze und schnelle Allegro los, in dem Stalin selbst porträtiert wird: verhetzt, getrieben, brutal, fratzenhaft verzerrt. Bemerkenswert hier das Trommelsolo, was kraftvoller kaum geht. Indem der Komponist ab dem dritten Satz seine Initialen „D. Sch.“ als viertöniges Leitmotiv „D – Es – C – H“ verwendet, stellt sich Schostakowitsch selbst als Akteur in diesen autobiografischen Stimmungsbildern aus finsterster Zeit dar.

Ganz am Ende der Sinfonie, nach vielen aggressiven, sarkastischen und trostlosen Momenten, überraschen die Cottbuser Musiker plötzlich mit einem Happy End in strahlendem E-Dur. Das wirkt wie aufgestülpt, wie eine Karikatur der positiven Botschaft, die das Sowjetregime von seinen Künstlern erwartete. Stalin, der Zyniker. Das leise letzte Wort hat das erwähnte D – Es – C – H-Motiv. Das Finale (Andante) nimmt nach einer erneut herb-dunklen Einleitung eine unvermutete Wendung ins Ausgelassene. Die ein letztes Mal sich zu Wort meldenden Stalin-Klänge werden vertrieben – vom insistierenden, glanzvoll gesteigerten Schostakowitsch-Thema. Die frohe Botschaft des Komponisten im Finale furioso: Der Diktator ist tot – und ich habe trotzdem überlebt. Fagott, Klarinette und Hörner ragen hierbei aus einem ohnehin starken Orchesterapparat heraus. Wendeberg und die Philharmoniker holen sich verdienten und minutenlangen Applaus ab.

Dieser richtet sich an diesem Abend aber auch an den Opernchor des Hauses und den Sinfonischen Chor der Singakademie Cottbus unter Christian Möbius. Sie gestalten den Teil vor der Pause mit der Uraufführung von Timo Andres „Land Mass“. Eine halbstündige musikalische Reise über Ozeane, tektonische Platten und Naturkatastrophen hinweg. „Bei Land Mass handelt es sich um eine Sammlung von Geschichten, Kuriositäten, Fakten und Fiktionen, Gegenüberstellungen und Anregungen“, notiert Komponist Andres.

Musikalisch umgesetzt wird das zunächst mit Elementen, die der Volksmusik entlehnt sind. Der Chor besingt die Welt der Natur. Blechbläser stechen hervor, Wendeberg dirigiert munter drauf los. Im zweiten Teil folgen rituelle Momente. Die Musik wird komplexer, die Atmosphäre gewaltiger. Jede Stimme bewegt sich in Wirbeln, kontrapunktisch dicht gestaltet. Der dritte Satz vertont einen Brief Plinius des Jüngeren, der seine Erfahrungen während des Vesuv-Ausbruchs im Jahr 79 nach Christus und den Tod seines Onkels, Plinius des Älteren, schildert. Lange, melodische Bögen präsentiert das Orchester, der Chor wird leiser, bevor es zum großen Knall kommt. Szenisch wird der Dialog zwischen Plinius der Jüngere und Plinius der Ältere dargestellt. Volles Bühnenbild, dann sprachloses Orchester.

Fast schon jazzig-leicht kommt da die Auftakt-Ouvertüre von John Adams daher. Mit „Lollapalooza“ legt Adams 1995 ein Geschenk für Sir Simon Rattle (von 2002 bis 2018 Chefdirigent der Berliner Philharmoniker) zu dessen 40. Geburtstag vor. Posaunen und Tubas verkörpern den „American Way of Life“. Wendeberg bringt swingige Einlagen gut hinter das Pult und reißt seine Musiker mit. Alles endet in einem finalen Ruf der Hörner und Posaunen. Der abschließende Schlag auf Pauke und große Trommel lässt auch den letzten Zuhörer erzittern.