Von Steven Wiesner
Es gibt Menschen, bei denen braucht man nicht lange, um ihre gute und liebevolle Seele zu entdecken. Manche von ihnen muss man dazu nicht mal zu Gesicht bekommen. Da genügt es mitunter schon, ihre Stimme zu hören. Brigida Melzer ist genau so ein Mensch. Nachdem unsere Auszubildende kürzlich ein Zwei-Minuten-Telefonat mit Frau Melzer führt, legt die junge Dame auf und sagt: Mensch, die ist aber herzlich.
Eine Einschätzung, die man oft zu hören bekommt, wenn Brigida Melzer das Thema ist. Die mittlerweile 81-Jährige hat sich in Lübben einen Namen gemacht. Hauptsächlich mit ihrem selbst- und viel zu oft auch schonungslosen Engagement im Lübbener Kinderhilfsverein für Tschernobyl, den sie viele Jahre führte und dem sie noch immer als Ehrenvorsitzende vorsteht. Um ihre Verdienste zu würdigen, ließ ihr die Stadt vor zwei Jahren die Ehre zukommen, sich ins Goldene Buch von Lübben einzutragen. Auch die Brandenburg-Medaille aus Potsdam gehört zu ihrem Portfolio an Auszeichnungen. Das freut einen natürlich und macht einen stolz, sagt Brigida Melzer zwar. Wegen derartiger Schmeicheleien nimmt sie den ganzen Stress, der mit dem Einsatz verbunden ist, aber nicht auf sich. Man möchte einfach helfen.
Bald sechs Jahrzehnte ist es jetzt her, dass die gebürtige Sächsin aus Naundorf bei Bautzen in den Spreewald kam und hier ihr Zuhause gefunden hat. Die ausgebildete Kindergärtnerin und Unterstufenlehrerin verdiente ihr Geld zunächst als Pionier- und Hortleiterin und fungierte bis 1987 viele Jahre lang als Leiterin vom Archivdepot des Staatsarchivs Potsdam in Lübben, ehe sie sich entschied, von 1990 an Menschen aus dem sowjetischen Katastrophengebiet zu helfen und sechs Jahre später den Kinderhilfsverein zu gründen. Während andere Vereinsmitglieder bei Reisen in das nach der Reaktorexplosion 1986 von radioaktiven Strahlen verseuchte Areal durchaus verständliche Skepsis äußerten und eher sagten: Puh, ich helfe ja gerne aus sicherer Entfernung. Aber direkt vor Ort zu helfen, ist mir zu heiß, kannte Brigida Melzer keine Berührungsängste. Sie fuhr einfach los. Jahr für Jahr.
5000 Kilometer legte sie zusammen mit weiteren Mitstreitern und ihrem Ehemann bei jedem einzelnen Hilfstransport zurück, um wichtige Versorgungspakete oder Medizin aus Deutschland in die Tschernobyl-Region nach Weißrussland zu bringen. Bei einer ihrer Reisen wurde sie auch schon von einem deutschen Fernsehteam begleitet. Es bleibt jedes Jahr ein Stückchen Herz hängen, sagte Brigida Melzer der Journalistin damals. So wertvoll und erfüllend sei die Erfahrung, in die glücklichen und dankbaren Gesichter der armen Menschen in Weißrussland zu blicken.
Das könnte dieses Jahr aber mein letzter Transport sein. Meine eigene Gesundheit wird auch nicht besser. Das sagte sie vor 13 Jahren. Dreimal dürfen Sie raten, wie viele Reisen des Kinderhilfsvereins Brigida Melzer seitdem verpasst hat: keine einzige.
Sie scheint einfach nicht loslassen zu können. Unermüdlich hält sie dem Verein und damit in erster Linie natürlich den Familien und Partnern jenseits der Oblast Kiew die Stange. Weil der Verein nach ihrem ersten Rücktritt als Vorsitzende keinen Nachfolger fand und auch Sponsoren und Geldgeber absprangen, übernahm die Pensionärin übergangsweise wieder das Zepter und die Gelder für die Vereinskasse flossen wieder.
Für dieses Vertrauen und auch die Hilfe meiner Vereinskollegen bin ich dankbar. Ich hätte das ja nicht alleine geschafft, sagt Brigida Melzer. Sie gesteht aber auch: Ich konnte nicht viel abgeben. Delegieren lag mir nicht im Blut. Aber nicht, weil sie etwa ein Machtmensch wäre und Spaß daran hätte, den Chef raushängen zu lassen. Sondern weil sie vermutlich eher das schlechte Gewissen geplagt hätte, vielleicht noch zu wenig getan zu haben. Ich wollte nicht faul sein und andere arbeiten lassen. Müsste sich die Seniorin dieser Tage nach einem Unfall an der rechten Hand nicht mit gesundheitlichen Problemen herumplagen, würde sie den Kinderhilfsverein vermutlich noch immer anführen.
Das ganze Auftreten und Wirken von Brigida Melzer beeindruckt noch viel mehr, wenn man sich mit ihrer ganz persönlichen Geschichte beschäftigt. Ihre Biografie hält Schicksalsschläge bereit, nach denen man umgekehrt für sie eine Hilfsorganisation hätte ins Leben rufen wollen: Während ihrer Zeit als Lehrerin zwang sie zunächst ein Stimmbandschaden in die Berufsunfähigkeit, nach ihrem Job im Archiv überlebte sie einen Schlaganfall und vor sechs Jahren verlor sie mit Egon Wulff auch noch ihren zweiten Mann.
Das war natürlich ein großer Einschnitt. Viele Leute haben gesagt, dass es mit der Zeit wieder gut wird. Aber es wird nicht gut. Ich empfinde es eher so, dass es schlimmer wird, sagt sie. Es fehlt einfach was. Im Lübbener Stadtbild kannte man uns immer nur als Team, wir waren immer zusammen. Wenn ich auf den Markt gegangen bin, war er immer dabei, auch wenn ihn nicht interessiert hat, was ich für Klamotten kaufe und plötzlich geht man alleine los. Den Namen ihres Gatten hat Brigida Melzer bis heute am Klingelschild stehen lassen.
Manch einer hätte nach so vielen Prüfungen vermutlich keine Freude mehr am Leben. Nicht aber Brigida Melzer. Sie will keine Verbitterung zulassen, hat für jeden ein Lächeln übrig und sagt: Ich will so bleiben, wie ich vorher war. Das kostet Kraft, aber ich kann doch nicht mit einem muffeligen Gesicht durch die Stadt gehen. Ich habe mich nicht fallen lassen, hatte immer was zu tun. Es hat mir gut getan, mit vielen Menschen zusammen zu sein. Und die Erfahrungen in Tschernobyl haben sie überdies gelehrt, was wirkliches Elend bedeutet. Das hat geholfen, die Dinge hier bei uns wertzuschätzen, sagt Brigida Melzer. Es könnte uns wirklich viel schlimmer gehen. Eine lebensbejahende, reflektierte und herzliche Haltung, die nicht jeder Mensch hat und die man manchmal schon nach einem Zwei-Minuten-Telefonat entdeckt.
In einer neuen Serie stellt die RUNDSCHAU jede Woche Herzensmenschen vor. Es geht um Männer und Frauen, die mit Leidenschaft und großem Engagement ihre Sache verfolgen oder in ihrem Leben eine Herzensentscheidung treffen mussten, die nicht ohne Risiko war und vieles verändert hat.
Wenn Sie Vorschläge haben, wer im Rahmen dieser Serie vorgestellt werden sollte, wenden Sie sich gern an die LR, am besten per E-Mail an red.spreewald@lr-online.de.