Von Ingvil Schirling
Unser Harald, sagt Katrin Stuth gern. Oder: Unser Aras. Die Rede ist von Menschen, die sie lange kennt, intensiv betreut und unter besonderen Umständen begleitet hat. Die sie aufgenommen hat in ihrem Herzen und manchmal auch auf ihrer Couch, ganz im wörtlichen Sinne.
Doch von vorne. Seit 1995 lebt die Psychologin in Lübben, schon ab 1991 arbeitete sie in der Spreewaldstadt. Aufgewachsen ist sie allerdings in Luckau, und gerne hätte sie Kartographie und Mathematik in Greifswald studiert. Angesichts der Westverwandschaft war das für die junge Frau nicht möglich. Ich fand das gar nicht so schlimm, erinnert sie sich, musste mir aber eine Alternative suchen. Und so kam sie als Chemiefacharbeiterin zum Abitur. Das war überhaupt nicht mein Ding, klar aber war der Plan: Von da aus bewerbe ich mich für Psychologie in Jena. Sie wurde angenommen, studierte und stieg 1988 beim Rat des Kreises als Leiterin des Sozialwesens ein. Sie trug die Verantwortung für die Heime für Menschen mit Behinderung, leitete die Behindertensportverbände an und vieles mehr. Die Weichen schienen gestellt.
Dann kam die Wende. Ich wollte nicht im Amt bleiben, sagt Katrin Stuth, das hing aber weniger mit den neuen politischen, sondern mehr mit den damaligen menschlichen Konstellationen zusammen. Die junge Frau traf für sich eine Herzensentscheidung und gab in einem Alter, in dem sie noch Beamtin hätte werden können, die sicher scheinende Laufbahn auf. Stattdessen nahm sie eine ABM-Stelle bei der Behinderten-Arbeitsgemeinschaft an.
Sie baute den allgemeinen Behindertenverband in Deutschland auf und heiratete den Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft. Dann suchte Helga Meier als Geschäftsführerin des ASB jemanden, der mit ihr das betreute Wohnen für Menschen mit Beeinträchtigungen aufbauen würde. Im Oktober 2003 wurde Katrin Stuth Fachbereichsleiterin.
2004 im Januar stand die offizielle Eröffnung des ersten Gemeinschaftshauses an der Berliner Chaussee in Lübben an. Zu Weihnachten, nur kurz zuvor, gab es aber schon drei Anwärter, die sonst mehr oder weniger auf der Straße gesessen hätten, erinnert sie sich. Also gaben wir ihnen ein Zimmer. Zwei davon feierten dann bei ihren Familien. Unser Aras, Anfang 20, aber blieb mutterseelenallein mit einer Betreuerin im Heim. Zuhause bei Stuths, während der traditionelle Kartoffelsalat vorbereitet wurde, guckte Sohn Marcus seine Mutter traurig an. Mama, die beiden sind ganz allein. Wollen wir nicht hingehen?
Es wurde der Anfang einer Tradition. Aus einem Schüsselchen sind mittlerweile jährlich fünf Kilogramm Kartoffelsalat geworden und aus acht Zimmern 28 Plätze in Wohngemeinschaften im Mehrgenerationenhaus an der Gartengasse. Viele fahren über Weihnachten nach Hause. Die, die bleiben, verbringen einen Teil des Weihnachtsabends nach wie vor mit Katrin Stuth.
Seit 2003 ist auch unser Harald dabei. Wenn er eine psychische Krise hatte und keinen Menschen sehen konnte, dann packte er seine Sachen und kam zu uns auf die Couch. Und nicht nur er. Bei so mancher großen Krise, ehe es zur Heimeinweisung kommt, schlägt der eine oder andere Bewohner bei mir auf, sagt Katrin Stuth.
Wie bleibt man dieser Aufgabe gewachsen? Rückzugsräume sind unheimlich wichtig. Manchmal, wenn ihre Stellvertreterin für die Bewohner da ist, ist auch Katrin Stuth mal ein Wochenende lang für niemanden zu sprechen. Entscheidend sei aber auch, die Gratwanderung zu schaffen zwischen einer hohen Empathie, also einem außergewöhnlichen Einfühlungsvermögen, und professioneller Distanz. Und schließlich: Man bekommt so viel zurück, sagt Katrin Stuth und hat Beispiel um Beispiel zu erzählen.
Zwei Etagen bewohnen die Menschen mit Beeinträchtigungen mittlerweile in der ehemaligen Grundschule. Die der oberen haben weitgehend Sicherheit und Stabilität gefunden, gehen einer Arbeit nach. Drei davon fahren täglich mit dem Zug nach Zeesen in eine Werkstatt. Darunter wohnen die jungen Wilden, wie sie liebevoll genannt werden, mit Geschichten von Alkoholmissbrauch in der Schwangerschaft oder Crackabhängigkeit mit Spätfolgen wie Schizophrenie, Stimmen hören oder Menschen sehen, die nicht da sind. Mit ihnen arbeiten wir konzeptionell natürlich völlig anders, sagt Katrin Stuth. Die letzte Rettung Gästecouch wäre nie ausgeschlossen.
In einer neuen Serie stellt die RUNDSCHAU jede Woche Herzensmenschen vor. Es geht um Männer und Frauen, die mit Leidenschaft und großem Engagement ihre Sache verfolgen oder in ihrem Leben eine Herzensentscheidung treffen mussten, die nicht ohne Risiko war und vieles verändert hat.
Wenn Sie Vorschläge haben, wer im Rahmen dieser Serie vorgestellt werden sollte, wenden Sie sich gern an die LR, am besten per E-Mail an red.spreewald@lr-online.de.