Von Dr. Rainer Ernst

Die Gastwirtschaft „Zum Rehbock“ lag und liegt an einem idyllischen Plätzchen südlich von Meißen direkt am linken Ufer der Elbe. Jenseits des Flusses erhebt sich die Boselspitze, und hinter dem Gasthof führt ein verschlungener Weg zum Schloss Batzdorf. Ein rechter Ort für eine Rast während einer schönen Wanderung.

Am frühen Abend des 2. September vor 160 Jahren speiste in der gemütlichen Wirtsstube ein nicht mehr junger, aber dennoch stattlicher Mann und labte sich an einem guten Tropfen. Nur seine Sommerbuckskniehosen, die Stiefel und der braune Spazierstock aus Weinrebenholz ließen in ihm einen Wanderer vermuten. Der dunkelbraune Überzieher, der schwarze Lauffrack, die seidene Weste, das Vorhemdchen, ein schwarz-seidenes Halstuch und die wollene Unterjacke jedoch wollten zu diesem Eindruck nicht passen.

Aber wirklich – der hier zu einer Ruhepause eingekehrte Herr befand sich auf einem  ganz besonderen Wege. Zu seiner Wanderschaft mochten die nachdenklichen Worte, die heute und vielleicht auch schon damals den Deckenbalken des Gastzimmers zierten, recht gut passen: „Genieße frohe Stunden, es ist schon später, als du denkst!“ Ob unser Wanderer früher frohe Stunden genossen hatte, kann nur vermutet werden. Über den Stand seiner Lebensuhr gab es für ihn hingegen keinen Zweifel. Kurz nach 19 Uhr entrichtete er seine Zeche, sah, dass sich noch ein Taler, 10 Silbergroschen und 8 Pfennige im Portemonnaie befanden, steckte sich eine Zigarre an und verließ nach freundlichem Gruß die Gastwirtschaft.

Am nächsten Morgen entdeckte Gastwirt Eberhardt auf dem Wege kurz hinter seiner Schankwirtschaft die Leiche des Gastes vom Vortage. Ein Justizbeamter aus Meißen und der dortige Amtswundarzt übernahmen am Nachmittag im Auftrage des Kreisgerichts die Untersuchungen. In ihrem Protokoll hieß es: „Der Körper schien einige fünfzig Jahre erreicht zu haben. Er hatte schwarzgraue Kopfhaare, schwarzgrauen vollen Backen- und Kinnbart, blau-grüne Augen, eine spitze Nase, schmales Gesicht. Im Gesicht eine blaustählerne Brille mit blauen Gläsern, im Munde einen Zigarrenstummel.“ Bald entdeckten sie an dem „Entseelten“ eine Schusswunde, die von einer „nicht gerade großen Pistolenkugel“ herrührte. Die Kugel hatte die Herzgrube, den Magen und das „Zwergfell“ durchdrungen und bewirkte durch innere Verblutung und Verletzung der Lungengefäße den sofortigen Tod. Merkmale anderer äußerer Verletzungen oder Gewalt entdeckten sie nicht. Unter dem Leblosen fanden die Ermittler eine „Doppelpistole, deren einer Lauf abgeschossen, der andere ungeladen war“.

In der Brusttasche steckten zwei vom Landrat in Luckau ausgestellte Passkarten, die den Toten als ­Julius Rehme, Bürgermeister in Finsterwalde, auswiesen. Eine Notiz, wohl von Rehme selbst am Vorabend in der Gastwirtschaft auf das erste Blatt seines Terminkalenders  geschrieben, ließ keinen Zweifel an seiner Identität und seiner „Selbstentleibung“: „Rehme. Bürgermeister in Finsterwalde, geboren den 7.4.1806, gestorben den 2.9.1859, abends halb 8 Uhr am Wege von Meissen nach Scharfenberg“.

Am 4. September erreichte die Kunde über dieses tragische Ereignis Finsterwalde. Es gehört wohl nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie sie von der Witwe aufgenommen wurde. Darüber schweigen jedoch die Archive. Die Stadtverordneten entsandten noch am gleichen Tage Lehrer Marcus, der im selben Hause wie der Bürgermeister wohnte, nach Meißen. Er identifizierte seinen Nachbarn und bestätigte, dass Rehme am folgenden Tage auf dem Friedhof Naustaedtel bei Meißen beigesetzt worden war.

Spekulationen über die Gründe für den Selbstmord des Bürgermeisters schossen nun reichlich ins Kraut. Frau Rehme geriet offenbar bald in finanzielle Not. Am Ende des Monats verkaufte sie bei einer großen Auktion ihre Möbel. Die Neubesetzung der Bürgermeisterstelle zog sich hin bis zum August 1862.

Hauptquellen:  Kreisarchiv Elbe-Elster, Herzberg, Bestand Finsterwalde, Nr. 837, Finsterwalder Wochenblatt 7. und 24.9.1859, Meißner Zeitung 6.9.1859