„Wir hatten Angst und keine Ahnung, was uns bevorsteht“, sagt Jakob Richter. Der 90-Jährige hat den Holocaust überlebt. „Ich hatte ständig Angst, selektiert zu werden“, erzählt er. Damals war er 15 Jahre, so alt wie viele der Schüler der Projektgruppe „überLAGERt“ heute selbst sind. Schon bei der Ankunft in Auschwitz-Birkenau wurden die Jüngsten und Alten ausgesondert. „Mütter, die sich nicht von ihren Babys trennen wollten, sind in der Gaskammer mitumgebracht worden“, sagt Richter. Auch der Großteil seiner Familie hat diesen ersten Tag nicht überlebt.
„Ich habe mich gefragt, was mit meiner Familie an der Rampe passiert wäre“, sagt Lätizia Bresler. „Wer überlebt hätte“, schiebt sie hinterher. Die Elftklässlerin gehört zur Projektgruppe, die sich intensiv mit dem Leben im KZ-Außenlager Lieberose/Jamlitz beschäftigt hat, eins von fünf Lagern, die Jakob Richter auf seiner Odyssee durchlief. Für ihre Arbeit erhielt die zehnköpfige Schülergruppe im vergangenen Jahr den Franz-Bobzien-Preis, der Initiativen würdigt, die sich der Aufarbeitung des NS-Regimes widmen.

Jakob Richter wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann

„Der Preis ist nicht das Wichtigste“, betont Melanie Wuttke. Viel mehr beeindruckt habe sie die Begegnung mit Jakob Richter. „Er ist eine tolle Persönlichkeit“, bestätigt auch Neele Dreißig. Wie viele Holocaust-Überlebende ging er zunächst nach Palästina, studierte später in den USA, gründete in Chicago eine Familie und wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann. Noch heute schaut er jeden Tag in seiner Firma vorbei. „Er ist immer so freundlich und lächelt viel“, so Wuttke. Selbst wenn er von der Zeit in den Lagern spricht.
Die Vergangenheit hinter sich zu lassen, sei eine bewusst gewählte Strategie, wie Jakob Richter einräumt. „Ich habe nie viel darüber philosophiert, sondern jeden Tag weitergelebt“, sagt er. In den USA habe er mitunter sogar verschwiegen, dass er Jude ist. Ob ihm der Glaube geholfen hat, die Zeit des Holocaust zu überstehen, wollen die Schüler von ihm wissen. „Ich bin in einer orthodoxen Familie aufgewachsen, war aber selbst gar nicht so religiös“, sagt er.

Buch konfrontiert ihn mit seiner eigenen Vergangenheit

Mit seiner eigenen Vergangenheit wurde Jakob Richter beim Lesen eines Buches über Lieberose/Jamlitz, einem Außenlager des KZ Sachsenhausen, konfrontiert. Geschrieben hatte es der Historiker Dr. Andreas Weigelt. „Eines Tages klingelte bei mir das Telefon. Ein Jakob Richter meldete sich und wollte sich mit mir treffen“, erzählt Weigelt.
Resultat dieser Begegnungen sind unter anderem zwei Dokumentarfilme. Der neueste Streifen „Man kann frustriert sein oder kämpfen – Jakob Richter. Leben nach dem Überleben“ hatte erst vor wenigen Tagen seine Premiere im Dorfgemeinschaftshaus in Jamlitz. Regie führten Momo und Kai-Uwe Kohlschmidt, beides ehemalige Cottbuser, die heute im Spreewald leben.
„Der Film ist toll“, sagt Heike Kaps-Brettschneider. Die Lehrerin für politische Bildung hat das außerschulische Projekt „überLAGERt“ am Steenbeck-Gymnasium initiiert. Überreden musste sie niemanden. „Es wollen immer mehr Schüler mitmachen als tatsächlich können“, sagt sie. Die Projektgruppe recherchiert für ihre Arbeit auch im Brandenburger Landeshauptarchiv und schaut die Zwangsarbeiter-Akten durch.

Dem berüchtigten Kommando „Gleisbau Reckmann“ auf der Spur

Eine neue Spur, die die Jugendlichen verfolgen, ist die des berüchtigten Kommandos „Gleisbau Reckmann“. Dahinter steckt eine private Cottbuser Firma, die im Frühjahr 1944 das Gleis Nr. 3 an der Rampe in Auschwitz verlegt hatte und auch um Jamlitz Straßen- und Gleisbau für die Waffen-SS betrieb. „Richard Reckmann soll die Arbeiter mit der Peitsche geschlagen und in flüssigen Beton geworfen haben“, berichtet Luise Stroisch. Ihm sei der Prozess in Westdeutschland gemacht worden.
Bei diesen Nachforschungen kann Jakob Richter den Schülern allerdings nicht weiterhelfen. „Ich höre den Namen zum ersten Mal“, sagt er. Doch dass sich Jugendliche in Deutschland kritisch mit der eigenen Geschichte auseinandersetzen, finde er „erfreulich“. Er hofft, dass „es nie mehr wieder zu so einer Katastrophe kommt“, wie er sagt.

Häftlinge mussten militärische Anlagen bauen

Das Konzentrationslager Lieberose im Dorf Jamlitz wurde in den 1930er-Jahren errichtet und war ein Außenlager des KZ Sachsenhausen. Die Häftlinge mussten Kasernen, Straßen und militärische Anlagen für den Waffen-SS-Truppenübungsplatz Kurmark bauen.

Das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau diente dem Lieberoser Lager als Arbeitskräfte-Reservoir. Nicht mehr arbeitsfähige Häftlinge wurden monatlich in Sammeltransporten wieder nach Auschwitz-Birkenau zurückgebracht und in den Gaskammern getötet.

Die meisten Häftlinge in Lieberose/Jamlitz waren ungarische, aber auch polnische und deutsche Juden. Bis zu 10 000 Häftlinge gingen durch das Lager. Überlebt haben nur 400 ehemalige Gefangene.