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Filmfestival Cottbus 2022: Starke Filme in Wettbewerb und Nebenreihen – aktuelle Tipps, was sich besonders lohnt
Wer am Ende gewinnt, darf auch das Publikum entscheiden - beim Publikumspreis, den die Lausitzer Rundschau gestiftet hat. Wir sagen stetig aktualisiert, wo es lohnt zu suchen.
219 Filme aus 48 Produktionsländern hat das Festival im Angebot. Gezeigt wird das Programm in diesem Jahr in sieben Spielstätten der Stadt. In den drei Wettbewerben Spielfilm, Kurzfilm und Jugendfilm werden wieder Preise in Höhe von knapp 70,000 Euro vergeben. Wir sagen, wo es lohnt, hinzusehen.
„Sermon to the Fish“ - ein Weltuntergang von berückender Schönheit
Davud ist siegreich aus dem Krieg heimgekehrt, doch sein Dorf ist zerstört. Die Häuser darin sind nur noch Ruinen, und alle Bewohner sind anscheinend einer Seuche zum Opfer gefallen. Sie seien verrottet, sagt die einzige Überlebende, Davuds Schwester. Die junge Frau hat gerade die gemeinsame Mutter beerdigt, in einer Art Feuerbestattung. Dann brennen Reifen in der kargen Landschaft – einer Mischung aus Bergen und Steppen. Die Schwester spricht mit dem Gras, dem Wind, dem Weg. Sie will diesen Ort des Todes nicht verlassen. Doch auch die Natur ist verseucht: Überall stehen die Tiefpumpen zur Förderung von Erdöl und kontaminieren das Wasser, die Fische. Davud dagegen spricht mit Geistern. Es sind seine toten Kameraden aus dem Krieg.
Die von dem aserbaidschanischen Regisseur Hilal Baydarov illustrierte Apokalypse passt in unsere von der Pandemie und dem Ukraine-Krieg bestimmte europäische Welt. Doch Baydarov findet dafür Bilder von berückender Schönheit – so gut hat der Weltuntergang auf der Leinwand selten ausgesehen. Die in grau-braun-gelblichen Tönen gehaltenen Einstellungen erscheinen wie sorgfältig komponierte Gemälde und lassen die versehrte Natur schön erscheinen: sei es ein gelber Baum mit silbrigem Stamm, seien es die Tümpel, die von Erdöl kontaminiert sind. Auf die Dauer ist das etwas repetitiv und bedarf wohl einiger mythologischer Vorkenntnisse. Doch man kann auch einfach nur loslassen und mit dem getragenen Tempo des Films und seinen großartigen Bildern dahingleiten. (Kira Taszman)
Mit gleich drei Produktionen landete das starke Filmland Polen in diesem Jahr im Spielfilmwettbewerb. In seinem vierten Langspielfilm „Fools“ seziert der preisgekrönte Regisseur und Drehbuchautor Tomasz Wasilewski das Zusammenleben von Marlena und ihrem knapp 20 Jahre jüngeren Partner Tomek. Ein abgeschiedenes Haus an der Ostsee, drei Minuten liebevoller Sex, dann ein Handyklingeln.
Marlena geht nicht ran. Immer wieder nicht. In ihrem Gesicht zu lesen sind Skepsis, Leid, Unentschlossenheit. Doch dann holt sie ihren bettlägerigen Sohn zum Sterben aus einem Pflegeheim nach Hause – gegen Tomeks Willen…
Wunderschön sind die Naturaufnahmen, die der rumänische Kameramann Oleg Mutu, der auch für Cristian Mungiu und Sergej Losnitsa arbeitet, komponiert. Doch draußen braut sich immer wieder ein Sturm zusammen.
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Auch die Wohnung der beiden ist kein Ort der Ruhe. Marlena ist stets in Bewegung, wie ein getriebenes Tier. Doch was auf ihr lastet, soll das Publikum noch nicht erfahren. Viel Zeit lässt sich Tomasz Wasilewski, um die anfängliche Harmonie mit kleinen Rissen, später mit gewaltigen Kratern zu durchsetzen und Schicht für Schicht eine dysfunktionale Familie zu enthüllen.
Vielleicht ein wenig zu viel Zeit. Denn erst in den allerletzten Minuten wird klar, warum Marlenas Tochter, die zur Beerdigung des inzwischen verstorbenen Bruders gekommen ist, ihre Mutter so verachtet. Das Ende ist ein lauter Knall, der lange nachhallt. Doch bis dahin ist Durchhaltevermögen gefragt. (Barbara Breuer)
9.11., 19 Uhr, Stadthalle Cottbus
10.11., 10 Uhr, Weltspiegel Saal 2
Was ist Ihr Lieblingsfilm? Der Publikumspreis der Lausitzer Rundschau
3000 Euro gibt es für den Regisseur des beliebtesten Spielfilms – und das Publikum kann entscheiden. Bei jeder Vorführung wird eine blaue Karte ausgegeben, auf der man bewerten kann, wie man den Film fand: spitze, sehr gut, durchschnittlich, schwach oder lohnt nicht (bitte vollständig ausfüllen). Am Ende wird aus allen Einreichungen der beliebteste Film gekürt und bei der Preisverleihung am Sonnabend in der Stadthalle ausgezeichnet.
Und: Das Mitmachen wird belohnt. Unter allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern werden Übernachtungsgutscheine für die Hotels Radisson, Lindner und Sorat verlost (zwei Übernachtungen inklusive Frühstück). Damit kann man dann gleich das Festival 2023 angehen.
„Have you seen this woman / Da li ste videli vou zenu?“ – eine Frau mit vielen Leben
Wer ist diese Draginja, und wenn ja, wie viele? Ist sie eine Vertreterin für Staubsauger, die ihr Gerät in fremden Wohnungen vorführt? Oder ist sie die charismatische rothaarige Hebamme, die ein Neugeborenes entführt und einen „Ehemann“ engagiert, um ihren Kolleginnen ein perfektes Leben vorzuspielen? Oder die Obdachlose, die ein elendes Leben auf der Straße fristet? Welche Draginja ist denn nun jene, die auf einer vergilbten Vermisstenanzeige gesucht wird und es durch ihr Verschwinden sogar ins Fernsehen schafft? Hauptdarstellerin Ksenija Marinković gelingt eine schauspielerische Tour de Force in Dušan Zorićs und Matija Gluščevićs Film, der zwischen Realismus, Fantasy und Satire schwankt. Mal Traum, mal Alptraum spielt dieser zuweilen wüste und sich in Extremen gefallene Film viele mögliche Lebensentwürfe einer Frau mittleren Alters durch, die allesamt stimmig erscheinen. Das erinnert thematisch an Krzysztof Kieslowskis Klassiker „Der Zufall“, der ebenfalls drei Szenarien für seinen Helden entwarf.
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Doch dieser serbische Wettbewerbsbeitrag kritisiert auch, welche Anforderungen die Gesellschaft an eine Mittfünfzigerin stellt und wie sie auf sie herabschaut. Die verschiedenen Leben Draginjas weisen stets kleine Überschneidungen zueinander auf, wobei kurze Déjà-vus entstehen. Einige schöne Einfälle wie eine durchsichtig werdende Draginja sowie die empathische Darstellung von Außenseitern lassen keine Langeweile aufkommen, während Draginjas wahre Identität bis zum Schluss Rätsel aufgibt. (Kira Taszman)
Adam ist ein ansehnlicher Bursche. Doch dem 21-Jährigen fehlt es an Selbstbewusstsein, weil er stottert. Er arbeitet in einem ungarischen Dorf bei einem Bauern als Schafhirte – für ihn keine sehr befriedigende Arbeit, denn Adam hat andere Ambitionen. Wenn er die Tiere zur Weide führt oder sie im Stall füttert, sagt er in einem ganz eigenen Stakkato Texte auf. Es sind die Lyrics zu seinen Rap-Songs – voller Wut über sein ungerechtes Los und die Welt, die er kennt. Denn Adam lebt immer noch unter der Fuchtel seines autoritären Vaters, eines Ex-Alkoholikers und neugeborenen Christen, der Adam in seiner Kindheit schwer misshandelt hat. Eines Tages nimmt er mithilfe eines befreundeten Rappers aus der Roma-Community einen Clip auf, in dem er nicht stottert, weil er sich hinter Hoodie und Mundschutz versteckt. Als „Larry, der Rapper mit der Maske“ entwickelt er sich bald zum Youtube-Star.
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Dass es bis zum wahren Ruhm allerdings noch weit ist, verschweigt das zeitgenössische Drama von Regisseur Szilárd Bernath nicht. Die Coming-of-Age-Story erzählt keine glänzende Erfolgsgeschichte, verzichtet auf überraschende Wendungen und macht dabei viel richtig. Zum einen schildert sie durchaus unterhaltsam und mit einer Prise Optimismus die allmähliche Emanzipation eines liebenswerten, aber zornigen jungen Mannes. Zum anderen ist der Jugendfilm auch eine Beobachtung des heutigen Ungarns, wo Rassimus gegen Roma grassiert, das Stadt-Land-Gefälle groß ist und Außenseiter jedweder Couleur einen schweren Stand haben. (Kira Taszman)
10.11., 19.30 Uhr, Kammerbühne
11.11., 10 Uhr, Kammerbühne
„Woman on the roof / Kobieta na dachu“ – Frauendrama aus Polen
Manchmal können Suizidversuche gründlich schief gehen – zum Glück. Nicht jede käme ohne weiteres auf die Idee, sich zur Schlafenszeit nackt aus dem höchsten Geschoss eines Plattenbaus zu stürzen. Doch Mirka, die genau das versucht hat, landet einigermaßen unversehrt zwei Etagen tiefer auf einem Baugerüst. Was man als Glück im Unglück ansehen, aber auch ein wenig lächerlich oder lustig finden kann, sagt jedoch einiges über die Hauptfigur dieses polnischen Dramas aus. Denn die Verzweiflungstat Mirkas, einer 60-jährigen Hebamme, kam nicht von ungefähr. Ebenfalls aus Verzweiflung (und wegen hoher Schulden) und mit genauso wenig Geschick hatte sie davor eine Bank überfallen – und wurde prompt verhaftet. Die Scham ist groß, denn was andere von ihr halten, ist Mirka stets wichtig gewesen. Immer war sie allen zu Diensten – Ehemann, Sohn, Kollegen – und vernachlässigte dabei nur eine Person: sich selbst.
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Im Laufe des Films wird Mirka lernen, mehr auf ihre innere Stimme zu hören, auch einmal etwas lauter zu sprechen und womöglich auch einmal aufzutrumpfen. Regisseurin Anna Jadowska war vor fünf Jahren schon einmal im Wettbewerb vertreten und gewann gleich den Hauptpreis. Auch ihr neuestes Werk ist eine anrührende Studie über eine Frau, deren Aktionen man nicht auf Anhieb nachvollziehen kann. Zuweilen will man diese unglaublich passive Mirka (sehr überzeugend: Dorota Pomykała) einfach nur anschreien und aufrütteln. Doch allmählich entwickelt man Verständnis für sie und drückt ihr die Daumen für ihren weiteren Weg. (Kira Taszman)
Es ist Sommer, Eltern und Kinder schlecken ein Eis und freuen sich auf den bevorstehenden Urlaub: Vaclav und Vera haben sich vor Jahren das Jawort gegeben und wollen in guten und in schlechten Zeiten zueinanderstehen. Wie ernst sie das meinen, müssen sie schon bald beweisen: Denn ihr Umfeld und die kritische politische Situation 1968 in der Tschechoslowakei stellen sie vor große gesellschaftliche und persönliche Herausforderungen.
„Es wird schon irgendwie“, beschwichtigt die dominante Vera ihnen ängstlichen Mann. Auch, als er immer wieder Besuch von Parteifunktionären bekommt. Denn ein Kommunist ist er nicht, der Notar mit dem einwandfreiem Ruf, der sich ehrenamtlich engagiert und zudem noch ein guter Vater ist.
Als im August 1968 die Panzer durch Prag rollen, sorgt sich Vaclav vor den politischen Folgen des Machtwechsels. Aus guten werden schlechte Zeiten und er landet in der Psychiatrie. Doch Vera gibt nicht auf, hält die Familie mit Disziplin zusammen, bestärkt ihren Mann in seiner Überzeugung und gibt ihm trotz ihrer Härte neuen Lebensmut.
Lose an die Beziehung ihrer eigenen Großeltern angelehnt, erzählt die 37-jährige Regisseurin Beata Parkanová in „The Word“ von einer unvorstellbar starken Liebe zweier sehr unterschiedlicher Charaktere. Beim Filmfestival in Karlovy Vary hat sie gleich zwei Auszeichnungen erhalten: Für die beste Regie und für Martin Finger als besten Hauptdarsteller. Immer wieder fängt die Kamera sein Gesicht nah ein. Zu sehen gibt es dort auch Angst, doch niemals Zweifel. (Barbara Breuer)
10.11., 19.45 Uhr, Stadthalle
11.11., 12.15 Uhr, Weltstpiegel Saal 2
Wie umgehen mit Depression? „Safe Place / Sigurno Mjesto“ aus Kroatien
Wie geht man als Bruder oder Mutter mit den Depressionen eines Familienmitglieds um? Damir hat versucht, sich umzubringen, konnte aber von seinem Bruder Bruno gerade noch gerettet werden. Als ob das nicht nervenzehrend genug wäre, muss Bruno sich fortan mit den Behörden herumschlagen: mit der Polizei, die untersucht, ob keine Fremdeinwirkung vorliegt, mit diversen Ärzten und unsinnigem Papierkram. Auch die Mutter der beiden holt der fürsorgliche große Bruder aus Split nach Zagreb, damit sie ihm bei der moralischen Unterstützung des des suizidalen Damir helfen kann. Doch wie soll diese Hilfe aussehen, wenn Damir in Wahnzustände verfällt oder zwischendurch türmt?
Das kroatische Drama von Juraj Lerotić, der Regisseur, Drehbuchautor und Darsteller des Bruno in einem ist, beobachtet eine Familie zwischen Angst und Zuversicht, die tut, was in ihrer Macht steht, dabei aber um ihre Hilflosigkeit weiß. Einen Safe Place, einen sicheren Ort, können Mutter und Bruder dem hilfsbedürftigen Damir nicht bieten. Aber auch das Krankenhaus mit seiner kalten Atmosphäre ist vor lauter festgefahrenem Dienst nach Vorschrift kein Ort, an dem jemand wie Damir sicher sein kann. Präzise beobachtet der Film dramatische Begebenheiten zwischen Zagreb und Split, in denen sich die Figuren in einem emotionalen Ausnahmezustand befinden. Mit sehenswerten schauspielerischen Leistungen und einigen irreal anmutenden Zeitsprüngen gelingt Juraj Lerotić ein berührender, trauriger und stimmiger Film über ein sehr komplexes Thema. (Kira Taszman)