Von Liesa Hellmann

Es gibt Begriffe, zu denen wohl jede, die in der DDR aufgewachsen ist, eine persönliche Geschichte erzählen kann. Mauerfall ist so einer. Treuhand ein anderer. Und dass es, 30 Jahre nach dem Fall der Mauer, noch immer großen Bedarf gibt, über diese Erfahrungen zu sprechen, wird am Donnerstagabend im Stadtmuseum deutlich.

„Mich hat die Wende wirtschaftlich sehr hart getroffen“, erzählt eine Besucherin. In der DDR habe sie eine leitende Position im Großhandel besetzt, nach der Wende sei ihr Kombinat aufgelöst worden. „Die Treuhand hatte für uns kein offenes Ohr“, sagt die Cottbuserin. Sie habe später einen Job als Sekretärin gefunden. Ein Rückschritt in ihrer Karriere.

Verlegerisches Kalkül und Wahlkampf

Sie ist eine von etwa 30 Cottbusern, die zu einer Veranstaltung gekommen sind, die, wie der politische Bundesgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, Michael Kellner, sagt, „keine klassische Wahlkampfveranstaltung“ sei, aber genau das natürlich auch ist. Eigentlich soll es an dem Abend um das Sachbuch „Die Übernahme. Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde“ des Historikers Ilko-Sascha Kowalczuk gehen. Als ein Gast fragt, warum er sein Buch so genannt habe, zögert Ilko-Sascha Kowalczuk und nennt schließlich zuerst einen recht banalen Grund: Der Titel sei vor allem verlegerischem Kalkül geschuldet und solle provozieren, um sich auf dem Buchmarkt durchsetzen zu können. Später verteidigt Kowalczuk den Titel noch einmal: „In den 90er-Jahren war Anpassung der zentrale Begriff. Der Ostdeutsche sollte so werden, wie der Westdeutsche glaubte zu sein.“

Populismus und Extremismus finden Nährboden im Osten

Eingeladen wurde Ilko-Sascha Kowalczuk, übrigens selbst kein Mitglied einer Partei, von den Grünen, die sich in Gestalt der Landtagsabgeordneten Heide Schinowsky und Michael Kellner ebenfalls den Fragen des Publikums stellen. Das interessiert sich allerdings vorrangig für das Buch des Historikers. Kowalczuk geht darin der Frage nach, wie sich die deutsche Einheit vollzog und bis heute nachwirkt und warum Populismus und Extremismus vor allem in Ostdeutschland wieder auf dem Vormarsch sind. Es geht an diesem Abend also auch um das Erstarken der AfD, von Rassismus und Antisemitismus.

Lang ersehnte Freiheit und Abstieg

„Die ostdeutsche Gesellschaft war in geschlossenen Räumen schon vor der Wende extrem fragmentiert“, konstatiert Kowalczuk. Wie die DDR damals wahrgenommen wurde und wie heute an sie erinnert wird, hänge von den Erfahrungen ab, die der Einzelne mit dem System gemacht habe. Folglich war der Fall der Mauer auch nicht für alle DDR-Bürger ein euphorisierendes Erlebnis. Während er für die einen lang ersehnte Freiheit bedeutete, brach für andere im buchstäblichen Sinne eine Welt zusammen: „Von einem Leben auf der Standspur wechselte man plötzlich auf ein Leben auf der Überholspur, in dem die Welt abends völlig anders aussieht als morgens.“

Hochglanz versprochen und gescheitert

In den 1990er-Jahren wurden den Menschen in Ostdeutschland „Hochglanzbroschüren versprochen, in denen sie leben würden“, übersteigerte Erwartungen, die nicht erfüllt werden konnten. Dies sei ein Grund für den Erfolg der AfD in den ostdeutschen Bundesländern. „Der Populismus hat in Ostdeutschland eine lange Tradition“, sagt Kowalczuk. „Es war einer der zentralen Punkte der PDS, die Rückkehr zu einer vorherigen, scheinbar besseren Zeit zu versprechen. Genau das macht nun die AfD.“ Für dieses Statement gibt es spontanen Applaus im Publikum.

Unterschiede bleiben zwischen Ost und West

Als er die Veranstaltungsankündigung in der RUNDSCHAU gelesen habe, habe er eine Geschichtsstunde wie in der DDR befürchtet, berichtet ein Gast. „So war es dann aber nicht.“ Die deutsche Einheit ist für den Cottbuser noch nicht vollendet, zu groß seien noch immer die Unterschiede im Einkommen, in der Lebenserwartung, der Verteilung von Vermögen. Dann richtet er das Wort an einen anderen Gast: Im Publikum sitzt auch Marianne Birthler, ehemals Bundesbeauftragte für die Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen. Von 1990 bis 1992 war sie Bildungsministerin in Brandenburg und damit für die Umstellung des Brandenburger Schulsystems mitverantwortlich. Dieser Prozess beeinträchtigte den Cottbuser beruflich und, das wird deutlich, belastet ihn bis heute. Birthler, obwohl selbst als Gast und nicht als Rednerin vor Ort, erklärt ihre Entscheidungen von damals. Es ist ein Moment, der zweierlei zeigt: Über die Wende-Erfahrungen von Ostdeutschen gibt es seit langem Redebedarf. Und es ist noch nicht zu spät, tatsächlich miteinander zu reden.