Sie war kurz davor, ihre Karriere mit einer Medaille bei den Olympischen Spielen zu krönen. Dann stieg sie auf Saint Boy – und das sportliche Drama nahm seinen Lauf.
Annika Schleus Verzweiflung wuchs mit jeder Sekunde. Sie weinte, sie schlug nach dem skandalösen Zuruf von Bundestrainerin Kim Raisner („Hau drauf, hau richtig drauf!“) mit der Gerte, sie rammte die Sporen in die Flanken des Pferdes, doch nichts brachte die panisch wirkende Athletin und den völlig verunsicherten Saint Boy noch in Einklang.
Da war das Fiasko in vielfacher Hinsicht programmiert – und es brachte Deutschlands beste Fünfkämpferin in Tokio um die sicher geglaubte Medaille und die große Chance auf Gold. Statt Jubel herrschte bei den deutschen Fünfkämpfern kollektives Entsetzen. „Warum mein Pferd so verunsichert war, weiß ich nicht“, sagte Annika Schleu, die beim Olympiasieg der Britin Kate French letztlich nur den 31. Platz belegte, weit abgeschlagen von jeder zunächst so sicher scheinenden Medaillenchance.

Annika Schleu erreichen wütende Kommentare aus der Heimat

Die Augen der  deutschen Athletin waren noch lange nach dem abschließenden Laser-Run gerötet und feucht. Auch die vielen tröstenden Umarmungen der Rivalinnen halfen kaum – schließlich hatten Schleu auch wütende Kommentare aus der Heimat erreicht. „Es ist tragisch“, sagte die grenzenlos enttäuschte Schleu: „Ich werde eine Weile brauchen, um darüber hinwegzukommen.“
Auf der Tribüne im Tokyo Stadium fühlte Peking-Olympiasiegerin Lena Schöneborn mit ihrer langjährigen Trainingspartnerin mit. Erinnerungen an Rio wurden wach. „Es kann keiner besser nachempfinden als ich. Es ist Eins-zu-Eins die Situation, die ich hatte“, sagte Schöneborn, die 2016 in Brasilien ihre Medaillenchance auf dem Rücken von Legende verloren hatte, in der ARD. Schleu war als Führende in die dritte Teildisziplin Reiten gestartet. Auf dem ihr zugelosten Saint Boy hatte zuvor schon die ROC-Athletin Gulnas Gubaidullina mit drei Verweigerungen große Probleme gehabt. Damit Schleu ein Ersatzpferd hätte wählen können, wären vier nötig gewesen. Sie hielt zur Sicherheit noch Rücksprache mit einem Veterinär und holte sich Tipps von der Besitzerin ein. Auf dem Abreiteplatz habe man sich „sehr gut verstanden“, erklärte die 31-Jährige: „Es gab keinen Fehler.“ Noch bevor die Sportsoldatin aber auf den Parcours reiten konnte, blockte das Tier ab. „Ich war kurz davor, abzugrüßen, bevor es losging, weil ich gemerkt habe, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmt“, sagte Schleu. Stattdessen gingen Bilder um die Welt, die kein gutes Licht auf den Modernen Fünfkampf warfen. Raisners indiskutable Zurufe wurden in den Sozialen Medien zerrissen, Schleu erreichten schon beim Umziehen für den Laser-Run „diverse Hassnachrichten“.

Berlinerin war um Klarstellung bemüht

Die Berlinerin war um Klarstellung bemüht. Eigentlich würden die deutschen Fünfkämpfer „als sehr einfühlsame Reiter“ gelten. „Es bricht uns das Herz, dass wir es nicht zeigen können“, sagte Schleu: „Ich denke, die Leute können es einfach nicht richtig einschätzen.“
Für Schleu endete in Tokio ein persönlicher, zäher Kampf auf unglückliche Weise. Nach einer Corona-Infektion im März musste sie sich behutsam an die gewohnten Trainingsbelastungen herantasten. Es seien „regelmäßig nach dem Laufen Tränen geflossen. Nicht, weil es so hart war, sondern, weil es deprimierend war, dass der Körper nicht so mitmacht, wie er soll“.
In Tokio fanden sie und Saint Boy nicht zusammen. Das Springreiten ist im Fünfkampf eine besondere Herausforderung. Mit dem zugelosten, vorher unbekannten Pferd müssen die Starter über einen 350 bis 450 Meter langen Parcours mit insgesamt zwölf Hindernissen reiten. Die Hindernisse haben eine Höhe von bis zu 120 Zentimetern. Dabei gibt es je eine zwei- und eine dreifache Kombination.
Vor dem Ritt haben die Reiterinnen und Reiter nach einer Auslosung nur 20 Minuten Zeit, um sich mit dem Pferd vertraut zu machen. Beim Aufwärmen dürfen maximal fünf Trainingssprünge absolviert werden.

Kritik der Dressur-Queen

Isabell Werth, die siebenmalige Dressur-Olympiasiegerin, hat gereizt auf die die mithin skandalösen Vorfällen im Modernen Fünfkampf am Freitag in Tokio reagiert und sieht sich grundsätzlich in ihrer Meinung bestätigt. „Fünfkampf hat nichts, aber auch gar nichts mit Reiten zu tun“, sagte Werth. „Die Pferde sind ein Transportmittel, zu denen die Athletinnen und Athleten keinerlei Bezug haben. Denen kann man genauso gut ein Fahrrad oder einen Roller geben.“