Der 91-jährige Hans Modrow kommt dreimal in der Woche in sein Berliner Büro im fünften Stock des Karl-Liebknecht-Hauses. Bei den Linken ist Modrow Vorsitzender des Ältestenrates. Auf Parteitagen liest der ehemalige Ministerpräsident der DDR den jüngeren Genossen regelmäßig die Leviten. Wenn es um Geschichte geht, will er, dass sie von allen Seiten beleuchtet wird. Im Gespräch präsentiert der einstige Hoffnungsträger mühelos Daten, Fakten und Namen. Wer ihm begegnet, wünscht sich im Alter so fit zu sein wie er.
Herr Modrow, am 4. März 1987 gab es ein Treffen zwischen Ihnen und dem stellvertretenden KGB-Chef Wladimir Krjutschkow, der später den KGB leitete. Unter Vermittlung von Markus Wolf soll es darum gegangen sein, Erich Honecker abzulösen und durch Sie zu ersetzen. War das so?
Modrow Nein. Das Treffen hat es gegeben, aber der KGB hätte sich niemals in solche politischen Sphären gewagt. Das war eine Nummer zu groß. Was ich weiß, ist, dass Michail Gorbatschow sich 1988 in Warschau mit dem polnischen Staatschef Wojciech Jaruzelski darüber unterhalten hat, ob ich ein möglicher Nachfolger von Honecker sein könnte.
Woher wissen Sie das?
Modrow Vom BND.
Das ist nicht Ihr Ernst.
Modrow Doch. Aber mehr weiß ich darüber nicht. Ich darf ja die Akten nicht einsehen. Es gibt auch Akten von einem Überläufer, der angeblich berichtete, dass Honecker Mielke beauftragt habe zu überprüfen, ob ich Hochverrat begangen hätte und Honecker stürzen wollte.
Am 7. Mai 1989 wurden in der DDR Kommunalwahlen abgehalten. Später wurden Fälschungen nachgewiesen. Sie sind wegen der Anstiftung zu solchen Fälschungen verurteilt worden wie sehen Sie diese Ereignisse heute?
Modrow Auch für diesen Fall galt der Grundsatz: Über Wahlen werden wir die Macht nicht abgeben. Es hätte nach Lage der Dinge so oder so eine Mehrheit für die Einheitsliste der Nationalen Front gegeben. Andere Listen standen ja nicht auf dem Wahlzettel. Aber wie immer sollte das Ergebnis auch noch besonders schön sein. Ich war Bezirksvorsitzender der SED und insofern liegt auch bei mir Verantwortung für das geschönte Ergebnis, Wahlfälscher war ich nicht.
Erich Honecker hat dann beim Pfingsttreffen der FDJ mit dem Wahlergebnis regelrecht geprahlt.
Modrow Und das mussten die Menschen als Provokation empfinden. Denn es war ja klar: Unter den schwierigen Umständen hatten doch Tausende ihren Unmut zum Ausdruck gebracht, in dem sie jeden einzelnen Namen auf der Wahlliste durchstrichen. Was übrigens die einzige Möglichkeit damals war, korrekt mit Nein zu stimmen.
Wie würden Sie Ihre Rolle in dieser Zeit vor dem Mauerfall beschreiben?
Modrow Die Beurteilung der Rolle möchte ich anderen überlassen. Vielleicht hier nur ein paar Fakten. Im Sommer 1989 wurde ich vom Landesvorstand der SPD in Baden-Württemberg eingeladen. Bevor ich fuhr, wurde ich gewarnt, ich könnte ins offene Messer laufen. Und als ich zurückkam, erklärte Honecker, ich hätte die Interessen der DDR nicht so vertreten, wie man es erwarten konnte. Das war praktisch der Vorwurf, mit dem Klassenfeind kollaboriert zu haben.
Sie haben in Dresden frühzeitig mit der Opposition gesprochen. Aber es gab auch einen sehr harten Polizeieinsatz gegen Demonstranten. Waren Sie innerlich zerrissen?
Modrow Die Herausforderungen waren außerordentlich. Aber man darf in der geschichtlichen Betrachtung nicht nur auf die DDR schauen. Im gesamten Ostblock vollzogen sich Veränderungen. Und der Westen hat dabei nicht nur zugeschaut. Wie ist es sonst zu erklären, dass Michail Gorbatschow heute eine großzügige Villa bei Moskau besitzt, die er nicht von der Sowjetunion geschenkt bekommen hat?
Aber in Dresden trugen Sie die Verantwortung.
Modrow Ja. Ich will aber erklären, wie instabil die Lage war. Gleichzeitig, das wird immer wieder vergessen, gingen praktisch alle politischen Kräfte in der DDR und zwar auch noch nach dem Mauerfall, von einer Reform der sozialistischen DDR aus. Wir wollten die DDR nicht aufgeben. Das gilt auch für die vier Blockparteien, die in der Regierung waren. Und was den Polizeieinsatz am 4. Oktober 1989 betrifft: Dass der Zug mit den Prager Botschaftsflüchtlingen durch die DDR fuhr, war mit der BRD abgesprochen. Im Zug saß unter anderem, der Genscher-Berater Wolfgang Ischinger. Trotzdem hätte die Lage vor dem Dresdener Hauptbahnhof nicht außer Kontrolle geraten dürfen.
Wie haben Sie den 9. November 1989 erlebt?
Modrow Es war ein großer historischer Augenblick, der unter anderem dadurch geprägt war, dass wir, die wir in der DDR Verantwortung trugen, unfähig waren, Gefahren auszuschließen.
Wie meinen Sie das?
Modrow Am 8. November tagte das ZK. Honecker und andere waren abgelöst worden, aber ansonsten war nicht viel passiert. Die Menschen wollten wissen, wie es weitergeht, bekamen aber keine Antworten. Einen Tag zuvor war völlig überraschend Ministerpräsident Willi Stoph zurückgetreten. Egon Krenz hatte Favoriten für die Nachfolge, die aber absagten. So wurde beschlossen, dass ich mich der Wahl durch die Volkskammer stellen soll.
Die ZK-Tagung zog sich bis zum 9. November hin.
Modrow Und kurz vor 18 Uhr ging Günther Schabowski zu der dann später so berühmten Pressekonferenz. Dass das neue Reisegesetz erst am 10. November veröffentlicht werden soll, hat er nicht mitbekommen. Da war er nicht im Saal, als das besprochen wurde.
Schabowskis maueröffnende Bemerkungen waren also Zufall?
Modrow Das weiß ich nicht. Vielleicht hat er auch die Sensation gesucht. Was Egon Krenz ihm mit auf den Weg gegeben hat, weiß ich nicht. Jedenfalls war es verantwortungslos, die Geheimhaltung über das Reisegesetz zu diesem Zeitpunkt aufzuheben. Die naive Planung war jedenfalls, dass das Reisegesetz verkündet wird und die Bürger bei der Polizei ihre Reisen oder Ausreisen beantragen.
Es hätte Blut fließen können.
Modrow Ja. Und das wäre unsere Schuld gewesen. Dass es nicht so kam, ist einem Major der Grenztruppen zu verdanken, der an der Bornholmer Straße ohne Befehl die Grenze öffnete. Das war unglaublich mutig.
Vier Tage später wurden Sie zum Vorsitzenden des Ministerrates gewählt. Hatten Sie da noch die Hoffnung, die DDR zu retten?
Modrow Allerdings. Nicht zuletzt deshalb, weil die Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt keinen Zweifel daran ließ, dass die DDR bleiben sollte. Am 2. und 3. Dezember trafen sich der damalige US-Präsident George Bush und Michail Gorbatschow auf Malta. Kein Wort vom Ende der DDR. Am 12. Dezember kam der US-Außenminister Baker zu Gesprächen mit mir nach Potsdam. Der französische Präsident und der britische Außenminister kamen. Niemand sprach von deutscher Einheit. Das begann erst Mitte Januar 1990.
Am 15. Januar 1990 wurde die Stasi-Zentrale in Berlin gestürmt Sie sind hingefahren. War das nicht ziemlich riskant?
Modrow Als ich dort ankam, waren da schon Zehntausende Demonstranten. Es wurde auf das Auto eingeschlagen. Manche brüllten: Du Kommunistensau. Ich hatte nur meinen Fahrer bei mir. Aber wir sind dann zu den Bürgerrechtlern wie Konrad Weiß durchgedrungen und die haben uns auch geschützt.
Die Stasi saß drinnen und Sie waren draußen allein?
Modrow Mit den Bürgerrechtlern und den Demonstranten. Ich habe auch eine Rede gehalten. Weil zu befürchten war, dass das Gebäude gestürmt würde und es zur Randale kommt, habe ich gesagt: Was können die Stühle dafür, welcher Arsch darauf gesessen hat? Das nehmen mir einige Ex-Leute des MfS bis heute übel.
Am 1. Februar 1990 präsentierten Sie eine Konzeption für den Weg zur deutschen Einheit.
Modrow Gorbatschow hat sich am 26. Januar 1990, vier Tage bevor ich zu ihm kam, mit seinen engsten Beratern über die deutsche Frage unterhalten. Da war man zu dem Schluss gekommen, die DDR preiszugeben. Mit Helmut Kohl war ich damals einig, dass erst einmal eine deutsch-deutsche Vertragsgemeinschaft gebildet werden sollte. Das nächste Stichwort war Konföderation. Das hätte natürlich nur als neutrales Gebilde Sinn gehabt.
Aber zur Konföderation kam es nicht.
Modrow Nein. Die USA hatten nämlich die sowjetische Haltung analysiert. Präsidentenberaterin Condoleeza Rice signalisierte ihrem Chef am 3. Februar, dass die Sowjetunion die Haltung Modrows für eine deutsche Neutralität einnehmen könnte. Am 8./9. Februar weilte der Außenminister der USA, Baker, in Moskau und Gorbatschow gab die Position zur Neutralität auf. Am 10. Februar war Kohl in Moskau und bekam dort genau diese Zusage. Letztlich ist nicht klar, warum die Sowjetunion das gemacht hat. Ihren Interessen entsprach das jedenfalls nicht.
Sie hatten viel mit Bundeskanzler Helmut Kohl zu tun. Hat der sie ernst genommen?
Modrow Ich weiß, dass manche das Gegenteil behaupten, aber ich kann mich an keine Phase unserer Zusammenarbeit erinnern, in der Kohl mich nicht ernst genommen hätte. Er hat sich übrigens auf unsere Gespräche gut vorbereitet. Zum Beispiel hat er sich ausführlich über meine Biografie informiert. Aber klar, Kohl hat immer versucht, seine Gesprächspartner an die Wand zu drücken. Lothar de Maizière hat mal gesagt, wenn Kohl im Raum war, hätte niemand mehr hineingepasst. (lacht) Mit Gorbatschow und Jelzin konnte er in der Sauna sitzen. Ein Sauna-Freund war ich nicht. Auch als er mir politisch entgegentrat, siehe Deutscher Bundestag, wurde ich ernst genommen.
Kohl hatte zweifellos ein ausgeprägtes Geschichtsbewusstsein.
Modrow Ja. Das betraf nicht zuletzt die Erkenntnis, dass Deutsche und Russen das Gemeinsame über das Trennende stellen müssen.
Hätte es 1989/90 auch anders laufen können?
Modrow Natürlich. Geschichte wird von Menschen gemacht. Ein militärisch neutrales Deutschland wäre möglich gewesen. Wenn die Beteiligten sich dafür entschieden hätten. Gorbatschow hätte die DDR so nicht aufgeben müssen. Für den Übergang der DDR in die EU hätte man Übergangsfristen schaffen können. Und bei der Wahl 1990 war ein Wahlsieg der SPD unter Oskar Lafontaine möglich.
Wenn Sie auf Ihr bisheriges Leben zurückblicken sind Sie alles in allem mit sich zufrieden?
Modrow Ich bin nie mit mir zufrieden. Und ich mochte noch nie, wenn jemand gesagt hat, er wäre stolz auf sich. Aber wenn Sie wissen wollen, wie ich mein Leben sehe: Nun, ich hatte viel Freude im Leben. Wir haben in der DDR geliebt und gelebt. Und nach 1990 auch. Meine Enkel bzw. Urenkel erleben keinen mit sich hadernden älteren Verwandten.
Mit Hans Modrow
sprach ANDRè BOCHOW