Mal angenommen, man hätte das Kunststück vollbracht, nichts von den Vorwürfen gegen Rammstein-Sänger Till Lindemann mitzubekommen, und fände sich plötzlich im Publikum des Konzert-Auftakts der Band in Berlin wieder. Viel Ungewöhnliches wäre einem wohl nicht aufgefallen – vom Pyro induzierten Wahnsinn einer jeden Rammstein-Show einmal abgesehen.
Auf der Bühne steht eine Band und spielt ihre Musik und die Fans davor feiern sie dafür. Und das frenetisch. War was? Doch für Fans, die die Vorwürfe kennen und den Frauen, die damit an die Öffentlichkeit gegangen sind, glauben, ist dieses Konzerterlebnis etwas herausfordernder. Für den Autor dieser Zeilen jedenfalls war es das.

Über 60.000 wollen Rammstein in Berlin sehen

In Scharen pilgerten die über 60.000 Fans am Samstag in das Berliner Olympiastadion zum ersten von drei Heimspielen für Rammstein. Fast alle gehüllt in Merchandise der Band. Mit dem zumeist schwarzen Stoff trotzen sie nicht nur einer erbarmungslosen Sonne, sondern auch jenen, die die Konzerte vor dem Hintergrund der Vorwürfe für nicht vertretbar halten.
Rammstein-Schlagzeuger bricht als Erster das Schweigen
Vorwürfe gegen Till Lindemann
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Berlin
Zwei Petitionen versuchten im Vorfeld eine Absage der Shows zu erwirken. Ohne Erfolg. Sogar Berlins Kultursenator Joe Chialo (CDU) äußerte sich – und wies das geforderte Verbot zurück. Die Forderung sei emotional verständlich, sagte der CDU-Politiker und ehemalige Musik-Manager. Doch: „Rechtlich gibt es keinen Hebel.“ Ihren Unmut darüber machen sich am Samstag Demonstrierende, die vom naheliegenden Theodor-Heuss-Platz vor das Stadion zogen, mit Bannern wie „Kein Rammstein in Berlin“ Luft.

Draußen buh, drinnen juhu

Auf dem olympischen Platz, wo eine Kundgebung der Konzertgegner stattfindet, werden sich verbale Scharmützel geliefert. „Nie wieder Rammstein“ oder „Rammstein ist scheiße, ihr seid die Beweise!“ wird den an den Absperrungen stehenden Fans zugerufen. Die antworten trotzig mit dem Refrain zum Rammstein-Song „Bück dich“. Einem Lied, das von sexueller Dominanz und BDSM-Praktiken handelt. Ausgerechnet.
Verbale Scharmützel zwischen Fans und Demonstrierenden: Vor dem Olympiastadion in Berlin fand eine Kundgebung von Gegnern des Rammstein-Konzert statt.
Verbale Scharmützel zwischen Fans und Demonstrierenden: Vor dem Olympiastadion in Berlin fand eine Kundgebung von Gegnern des Rammstein-Konzert statt.
© Foto: Fabian Sommer/dpa

Schon vor Konzertbeginn gibt es im Olympiastadion La-Ola-Wellen

Konsens hingegen findet man hinter der Ticketkontrolle. Schon bevor es losgeht, ist im Stadion die Vorfreude auf das Konzert deutlich spürbar. Kaum hat das französische Piano-Duo Abélard, das als Vorband Rammstein-Songs interpretiert, ihr Set beendet, folgt eine La-Ola der nächsten durch das riesige Halbrund. Als Lindemann schließlich zum choralartigen Intro von „Rammlied“ die über 30 Meter hohe Bühne per Lift herunterfährt, brandet der Jubel endgültig los. Wie aus einer Kehle singt die Masse den denkbar simplen Refrain: „Ramm… Stein“.
Fans aus Cottbus und Musiker reden Klartext zu sexualisierter Gewalt
Rammstein und Till Lindemann
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Cottbus
Auch beim folgenden „Links 2,3,4“ strecken sich alle Arme im Takt in die Höhe. Unisono brüllt es „Hey“. Der Bass der düsteren Riffs dringt mit brachialer Kraft aus den unzähligen Lautsprechern – und geht direkt ins Mark. Flammen schießen in die Höhe, Rauch hüllt das Stadion in dicken Dunst, die sekundengenau getaktete Lichtshow kommt so nur noch mehr zur Geltung.

Till Lindemann verzichtet auf Zwischenansagen

Die Band um Lindemann spielt, wie gewohnt, Song auf Song. Auf Rammstein-Konzerten wurde nie viel geredet. Das ist auch in Berlin nicht anders. Es gibt keine direkte Ansprache der Fans, keine Zwischenansagen. Bei einer Show, in der taktgenaue Feuerwerk-Salven gen Himmel feuern, ist für Spontanität ohnehin kein Platz.
Stattdessen reißt der Mix aus Riffs, Lautstärke, Pyro und Props (wie der Flammen spuckende Kinderwagen bei „Puppe“) nicht ab. Alle Sinne werden angesprochen. Ein Bann, dem nur schwer zu entkommen ist. Besonders, wenn Songs wie „Du hast“, „Sehnsucht“ und „Mein Herz brennt“ schon aus dem heimischen Kinderzimmer dröhnten und die Eltern einst zur Weißglut trieben. Sie rufen Erinnerungen an vergangene Konzertbesuche wach, großartige Erlebnisse, die man mit Freunden teilte – und von denen man sich noch Jahre danach erzählt.

Ständig ist da dieser Konflikt

Doch so reflexartig die Musik, die man doch gern hörte, auch Euphorie heraufbeschwört, die Gedanken an die Vorwürfe der vielen Frauen kann sie nicht übertönen. Ständig ist da dieser innere Konflikt. Darf man klatschen? Mitsingen gar? Jedenfalls erwischt man sich immer wieder dabei. Fühlt sich irgendwie nicht richtig an. Wozu hat man eigentlich die ganzen Artikel über die Trennung von Künstler und Werk gelesen? Hier im Olympiastadion helfen sie herzlich wenig.
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Berlin
Die Dissonanz liegt auf dieser Rammstein-Show weniger in den Tönen. Nein, die Band spielt wie immer. Stattdessen spielt sie sich im Kopf ab. Und wo einst Staunen einsetzte, tritt jetzt eher ein flaues Gefühl im Magen auf den Plan. Etwa an der Stelle bei „Sonne“, an der riesige Flammensäulen das Stadion aufhellen. Bewunderung und Nostalgie ringt hier mit einer wachsender emotionalen Distanz.
Kein Zweifel: Das Herz brennt. Gut fühlt sich das allerdings nicht an. Besonders wenn der Blick wieder über die feiernde Masse schweift, fühlt man sich plötzlich ziemlich allein mit seinen Gedanken. Der letzte Song „Adieu“ kommt da fast einer Erleichterung gleich. Und sein Titel einer Prophezeiung – jedenfalls, wenn man einen inneren Konflikt in sich trägt. Ein erheblicher Teil des Publikums an diesem ersten von drei Rammstein-Konzerten in Berlin dürfte das jedoch anders sehen. Und das grenzt tatsächlich an ein echtes Kunststück.