Herr Hirte, wie würden Sie denn 30 Jahre nach dem Mauerfall den Stand der deutschen Einheit beschreiben?

Das Glas ist weit mehr als halbvoll. Wir haben allen Anlass, mit Stolz auf das Erreichte zurückzublicken. Aber wir haben nach wie vor erhebliche strukturelle Unterschiede. Der Osten ist kleinteiliger und ländlicher. Und wir haben – weltweit – die Situation, dass diese Regionen es in manchen Bereichen schwerer haben. Aber: Die Probleme, die vor uns liegen, sind nicht mehr so ausgeprägt wie in den 30 Jahren zuvor. Wir kommen ab dem nächsten Jahr in die Situation, dass die Vereinigungsphase aus rechtlicher, förderpolitischer und organisatorischer Hinsicht praktisch abgeschlossen sein wird.

Wenn es um die strukturellen Unterschiede geht, sagen die einen, man muss noch daran arbeiten und die anderen, es handelt sich um normale Unterschiede, die es in jedem Land der Welt gibt. Was meinen Sie?

Ungleichheit wird es immer geben, Ungerechtigkeiten müssen wir verhindern. Einkommensunterschiede zum Beispiel gibt es auch innerhalb Westdeutschlands. Die zwischen Ost – und Westdeutschland sind übrigens deutlich kleiner als die zwischen Lüneburg und Frankfurt/Main. Es ist aber Aufgabe der Politik, für gleichwertige, also für gute, Lebensverhältnisse zu sorgen.

Und die gibt es jetzt?

Ja. Der Osten muss sich nicht verstecken. Es gibt auch dort fast keine Arbeitslosigkeit mehr. Die Menschen leben in einer traumhaft schönen Kultur-und Naturlandschaft und können das Wohnen bezahlen. Die Kinderbetreuung funktioniert viel besser als im Westen. Was nützt es denn, in München ein doppelt so hohes Einkommen zu haben wie in Frankfurt (Oder) bzw. Cottbus und dafür ein Vielfaches für die Wohnung und die Kinderbetreuung auszugeben.

Trotzdem fühlen sich viele Ostdeutsche als Deutsche zweiter Klasse.

Das wird gern behauptet, ich habe aber nicht den Eindruck, dass sich bei den Menschen alles um dieses Gefühl drehen würde. Was mich mitunter ärgert: Der Westteil des Landes gilt immer als Maßstab. Als sei die Einheit erst erreicht, wenn die Uckermark wie das Allgäu ist. Das war nie so und soll auch nicht so werden. Es fällt vielleicht schwer, die kulturellen und ökonomischen Unterschiede, die bleiben werden, zu akzeptieren. In Wahrheit orientieren sich viele zum Beispiel am Einkommensniveau in den reicheren Teilen Bayerns, Hessens oder Baden-Württembergs und damit an den reichsten Regionen Europas und der Welt. Aber es gibt im Westen eben auch Duisburg, Gelsenkirchen oder Teile Oberfrankens.

Sie vertreten die These, der Osten wäre dem Westen 30 Jahre voraus. Können Sie das mal erklären?

Wir erleben gesellschaftliche Trends, die im Osten heute schon viel härter als im Westen zuschlagen. Nehmen wir nur die Bevölkerungsentwicklung, bestimmte soziale Entwicklungen oder die abnehmende Zustimmung zu politischen und gesellschaftlichen Institutionen – zu Parteien, Kirchen, Gewerkschaften. Das, was wir heute im Osten sehen, werden wir auch in Westdeutschland bald flächendeckend antreffen. Was wir heute im Osten lösen, hilft damit dem ganzen Land.

Jetzt sind Sie aber der Schwarzseher. In Brandenburg zum Beispiel ist der Bevölkerungsschwund gestoppt und aussterbende Dörfer gibt es auch kaum.

Ich bin der Letzte, der einen negativen Blick auf den Osten hat, ich habe einen realistischen. Und ich habe die These von den aussterbenden Dörfern schon immer für Unsinn gehalten. Dörfer verschwinden nicht wirklich. Auch die Bevölkerungsprognosen treffen oft nicht zu. Ich höre auch in meiner Heimat viel mehr über fehlende Bauplätze in Dörfern als über Abwanderung. In manchen sehr ländlichen Regionen ist die Situation dennoch sicher schwieriger als im Speckgürtel von Berlin. Den Vorschlag einiger Wissenschaftler, solche Gegenden aus ökonomischen Gründen den Wölfen zu überlassen, lehne ich strikt ab.

Von 120 Abteilungsleitern in den Bundesministerien kommen drei aus Ostdeutschland. In der Bundestagsverwaltung und in Behörden des Bundes sieht es nicht anders aus. Eine Studie der Universität Jena und der Hochschule Zittau/Görlitz von 2017 geht von 1,7 Prozent Ostdeutschen in Spitzenpositionen aus. Wie finden Sie das?

Die Zahlen sind nicht akzeptabel. Die Frage ist nur, wie wir damit umgehen.

Sie sind gegen eine Ostquote.

Ja. Es war nach 1990 von einer breiten Bevölkerungsmehrheit gewollt, dass wir in Politik und Verwaltung einen Elitenwechsel vornehmen. Und im kommenden Jahrzehnt gehen 60 Prozent aller Richter, Staatsanwälte und höheren Beamten in Pension. Da muss man bei der Nachbesetzung sensibel sein. Allerdings verlangt Artikel 33 des Grundgesetzes einen Zugang zu solchen Positionen, der unabhängig von der Herkunft und nur an der Qualifikation ausgerichtet ist.

Es gibt auch das Problem, der Herkunftsbestimmung.

Die Universität Leipzig hat sich an einer Ostquote versucht, die auch die Linken in Mecklenburg-Vorpommern aufgegriffen haben. Ostdeutscher soll danach sein, wer vor dem 31.12. 1975 auf dem Gebiet der DDR geboren wurde und dann dort bis 1990 gelebt hat. Danach wäre Angela Merkel keine Ostdeutsche, weil sie in Hamburg geboren wurde. Und ich wäre auch kein Ostdeutscher, weil ich zwar aus Thüringen komme, aber zu jung bin. Oder nehmen wir Zugereiste, die nun schon seit 25 Jahren in Thüringen oder Sachsen wohnen. Sind die keine Ossis mit Chancen auf Jobs in Behörden?

Und was ist mit Artikel 36 des Grundgesetzes, der verlangt, alle Bundesländer sollen bei der Besetzung der oberen Bundesbehörden angemessen berücksichtigt werden?

Der Artikel hat seinen Ursprung in der Weimarer Verfassung. Damals ging es darum, die Vorherrschaft Preußens zu unterbinden. Die Gleichberechtigung der Länder wird heute durch den Bundesrat gewährleistet. Was der Artikel aber auch verlangt, das ist die Besetzung von Behörden mit Mitarbeitern aus der jeweiligen Region. Deswegen ist es so wichtig, dass weitere Bundesbehörden auch im Osten angesiedelt werden.

Die Frage ist, ob damit etwas erreicht wird. Von 25 Präsidenten der Oberlandesgerichte im Osten sind 25 aus Westdeutschland. In Sachsen Anhalt lag der Anteil der ostdeutschen Staatssekretäre und Minister bei 37,5 Prozent – 2009 waren es noch 57,1 Prozent.

Wie gesagt, bei Justiz und Verwaltung hat man sich nach dem Ende der DDR dafür entschieden, junge und unbelastete Leute aus dem Westen zu holen….

Aber das ist 30 Jahre her.

...Wer damals Anfang 30 war, ist eben noch im Beruf. Und deswegen gehen die ja auch größtenteils demnächst in den Ruhestand. In den Verwaltungsspitzen sind das in der Regel politische Entscheidungen. In Thüringen sind 8 von 13 Staatssekretären aus den alten Bundesländern. Dort regiert aber ein Ministerpräsident der Linken, der übrigens auch aus dem Westen kommt. Dabei sind es die Linken, die am lautesten nach der Ostquote rufen.

Bodo Ramelow hat eine demokratische Mehrheit bekommen.

Eben. Und anderswo haben andere Politiker mit westdeutscher Herkunft ebenfalls eine Mehrheit bekommen. Bernhard Vogel oder Kurt Biedenkopf waren doch Glücksgriffe für ihre Länder, Erwin Sellering war in Mecklenburg-Vorpommern hoch angesehen, nach der Definition der Uni Leipzig wäre nicht mal Manfred Stolpe Ossi gewesen, weil er in Stettin geboren wurde. Soll da eine Quote eingeführt werden? Die Bürger entscheiden. So funktioniert das. In Ost und West.

Sie sehen keinen Nachteil darin, wenn jemand aus den neuen Bundesländern stammt. Aber holen nicht die westdeutschen Eliten einander in die Führungspositionen? Ostdeutsche erben weniger und bei Eigentum an Grund und Boden sieht es auch schlecht aus.

Es gibt natürlich Unterschiede bei den Vermögenswerten. Das hat auch Folgen für die Gegenwart – denken Sie an die Frage, ob und wie Sie Ihren Kindern einen Start in die berufliche Zukunft ermöglichen können. Aber auch im Westen haben nicht alle Menschen Vermögen. Außerdem gibt es immer Veränderungen. Die brauchen allerdings manchmal Zeit. Wer hätte gedacht, dass aus dem Agrarland Bayern ein reiches, industrialisiertes Bundesland werden würde? Jedenfalls sind grundsätzlich die Chancen gleich. Egal, ob man in Oranienburg oder in Oberstdorf auf die Welt kommt.

Und warum brauchen wir dann einen Ostbeauftragten der Bundesregierung?

Wir haben einen und der sollte seine Stimme erheben, wenn es nötig ist. Aber das ist natürlich eine berechtigte Frage für die Zukunft. Die Solidarpaktmittel laufen aus, die rechtlichen Verhältnisse sind praktisch angeglichen. Allerdings gibt es noch soziale und kulturelle Unterschiede. Ich sehe meine Aufgabe darin, die damit verbundenen Nöte und Sorgen zu adressieren. Perspektivisch muss man sich überlegen, ob man auf einen Ostbeauftragten verzichten kann. Es geht ja darum, Unterschiede zu überwinden und nicht darum, diese zu zementieren.

Richtig sauer ist Carsten Schneider, Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD-Fraktion. Er nennt Sie "Frühstücksdirektor" und "politischen Ausfall" und sagt: "Der Osten hätte etwas Besseres verdient." – Sind Sie noch der Ostbeauftragte der gesamten Bundesregierung?

Was denn sonst? Die Äußerungen von Carsten Schneider verstehe ich funktional. Wir haben Wahlkampf und der SPD geht es nicht besonders gut. Vor allem nicht in Sachsen und Thüringen. Da wird der Ton halt rauer. Nur ist dem Osten damit kein bisschen geholfen.

Gegen die Grundrentenpläne der SPD sind Sie aber schon?

Wir haben uns im Koalitionsvertrag auf eine Grundrente verständigt – mit Bedürftigkeitsprüfung. Diese Position hat auch Andrea Nahles lange vertreten. Nun sieht die SPD das anders. Aber das ist ein Problem der Sozialdemokraten. Es muss sich doch nicht derjenige rechtfertigen, der gern den gemeinsamen Vertrag erfüllen möchte.

Und was ist mit dem Solidarpakt? Der läuft aus und die SPD wirft Ihnen persönlich vor, den Osten im Regen stehen zu lassen.

Es wird ab dem kommenden Jahr ein gesamtdeutsches Förderinstrumentarium geben. Das werden wir noch in diesem Jahr auf den Weg bringen. Bedürftige Regionen im Osten werden also nicht im Stich gelassen. Nur gibt es eben auch in Westdeutschland Gebiete, die dringend der Unterstützung bedürfen. Die Landkreise mit dem größten Bevölkerungsschwund liegen zumindest nicht in alle in Ostdeutschland.

Sondern?

Der Landkreis Fürth hatte 2014 den größten Einwohnerrückgang. Oder eine Stadt wie Pirmasens verliert in den kommenden Jahren mehr Einwohner als Neubrandenburg.

In diesem Jahr wird es wieder besonders um die Aufarbeitung der DDR-Geschichte gehen. In welcher Form ist da der Ostbeauftragte der Bundesregierung einbezogen?

In Kürze wird eine Regierungskommission gebildet, die sich mit dem 30. Jahrestag der friedlichen Revolution und mit 30 Jahren deutscher Einheit beschäftigen soll. Nach bisherigen Planungen sind Matthias Platzeck als Kommissionsvorsitzender und ich als Stellvertreter vorgesehen. Wir wollen mit den Bürgern ins Gespräch kommen, um gemeinsam die Feierlichkeiten vorzubereiten und auch zu begehen.

Sie sind Jahrgang 1976 – als die Mauer fiel, waren Sie 13. Welches Verhältnis haben Sie zur DDR?

Ich bin im wahrsten Sinne des Wortes im Schatten der Grenze aufgewachsen. Meine Großeltern hatten einen Bauernhof, 50 Meter vor dem Zaun an der hessisch-thüringischen Grenze. Große Teile der Verwandtschaft lebten im Westen, wir auf der anderen Seite. Und in der Schule wurde mir als Katholik deutlich gemacht, dass man mich mit Misstrauen betrachtete. Ich will das nicht übertreiben. Meine Kindheit war sehr schön. Aber ich habe die DDR durchaus intensiv wahrgenommen.

Manche halten die Erfahrungen der Zeit nach dem Mauerfall für prägend. Sie nicht?

Auf jeden Fall wurde diese Zeit bislang zu wenig in den Blick genommen. Andererseits müssen Politiker, Journalisten und Historiker sich davor hüten, ihre Sicht der Dinge für den allgemeinen Maßstab zu halten. Im Alltag wird über solche Themen oft überhaupt nicht geredet. Im praktischen Leben spielt die akademische Aufarbeitung der Vergangenheit keine Rolle.

Aber die Zeit war doch wichtig.

Ja. Und man sollte darüber auch reden. Das passiert ja auch immer mehr, die Wissenschaft entdeckt mit dem Abstand einer Generation dieses Thema für sich. Im Westen wird oft überhaupt nicht verstanden, wie dramatisch diese Zeit nach 1990 für die Ostdeutschen war. Es ist ja immer von einem Transformationsprozess die Rede. In Wirklichkeit war es ein Abbruchprozess. Drei Viertel der Menschen haben nach 1990 nicht im gleichen Job gearbeitet wie zuvor. Fast alles änderte sich. Ich glaube übrigens, im Wesentlichen zum Guten.

Die Veränderungen sind doch auch schon wieder Geschichte. Nur gibt es gerade jetzt viel Wut und Empörung in Ostdeutschland. Haben Sie eine Erklärung dafür?

Ich glaube, dass die Flüchtlingskrise ein Auslöser war. Dahinter stecken viele unverarbeitete Veränderungsprozesse der Nachwendezeit, die Globalisierung und nun kommt auch noch die Angst vor der Digitalisierung dazu. Was da innerhalb von einer Generation von den Menschen abverlangt wurde und wird, überfordert Viele. Mit fällt keine Epoche ein, in der innerhalb so kurzer Zeit alles neu wurde und sich ja auch weiter wandelt. Und das provoziert eine Abwehrreaktion. Der Osten hat einen Systemzusammenbruch erlebt und da fragen sich die Menschen eher, ob denn das, was jetzt besteht, immer so bestehen wird? Dabei gibt es die Angst – aus eigener Erfahrung gespeist – dass der Einzelne unter die Räder kommen kann.

Offensichtlich beantworten viele die Frage mit Nein. Machen Sie sich Sorgen wegen der anstehenden Landtagswahlen?

Ich nehme die Wahlen sehr ernst, glaube aber, dass bestimmten Protesten mittlerweile die Spitze gebrochen ist. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass wir nach einem schlechten Start in der Groko mittlerweile eine vernünftige Regierungsarbeit machen.

Manche halten die ersten Regierungsbeteiligungen der AfD im Osten für denkbar.

Für die Populisten am linken und rechten Rand ist Spaltung das Geschäftsmodell. Die AfD betreibt das in völlig inakzeptabler Weise. Dazu gehört auch eine absurd aggressive Rhetorik. In Thüringen, wo ich stellvertretender Landesvorsitzender der CDU bin, kann ich uneingeschränkt eine Koalition mit der AfD ausschließen.

Mit Christian Hirte sprach André Bochow