Von Miriam Schönbach

Das ausrangierte quietschrote Feuerwehrmobil verlässt dröhnend Klein Priebus im Landkreis Görlitz. Jan Hufenbach sitzt am Steuer, grüßt einen Nachbarn durch das geöffnete Fenster. Die Rückbank gehört Arielle Kohlschmidt. Seit zehn Jahren leben die Wahl-Oberlausitzer im letzten Zipfel zwischen Sachsen, Brandenburg und Polen. Sie haben ihr Auf und Ab im Großstadtdschungel gegen den Gleichklang des Landlebens getauscht – ganz bewusst. Das Paar will auch anderen Mut zu diesem Schritt machen. Sie sehen sich als „Raumpioniere“ – und wollen mit ihrer „Raumpionierstation“ in der Oberlausitz landlustige Städter beraten. An diesem Nachmittag ist das Paar unterwegs, um andere Neu-Oberlausitzer zu treffen.

Mehr als 80 000 Menschen verließen den Landkreis Görlitz

Der Wind weht einen Hauch Landluft in das knattrige Gefährt. Für das Paar ist ihr rotes Mobil Aufmerksamkeitsbringer und Verbinder, sagt Kohlschmidt, während draußen über Kilometer hinweg Kiefern vorbeirauschen. Schilder am Straßenrand warnen vor Wild. Doch die Idylle allein reicht nicht. Seit der Wende zogen mehr als 80 000 Menschen aus dem Landkreis Görlitz weg, besonders junge Leute und Frauen kehrten der Region den Rücken. Heute leben in gut 50 Gemeinden entlang der Neiße rund 260 000 Menschen.
Die Bevölkerungsprognosen für die Region vermitteln ein düsteres Bild, etwa die Studien des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) aus Köln. Während Deutschlands Metropolregionen boomen, drohen auf der anderen Seite besonders ländliche Gebiete - wie die Oberlausitz - den Anschluss zu verlieren. Junge Menschen wandern ab. Auch der Braunkohleausstieg könnte gravierende Folgen für die Region haben, warnen Experten des Leibniz-Institutes Halle.

Günstige Grundstücke, ein bisschen Abenteuer und Platz für Ideen

Hufenbach kennt die Studien. Er weiß, dass seine neue Heimat schrumpft. Entlegene, ländliche Gebiete sollen 30 Prozent ihrer Bevölkerung verlieren. Schon jetzt gebe es in der Lausitz Orte, wo auf einen 25-Jährigen zehn 65-Jährige kommen. Hufenbach will dagegensteuern: Gemeinsam mit Arielle Kohlschmidt und dem „Raumpionier“-Netzwerk – für Menschen, die abseits der Metropolen Alternativen suchen: günstige Grundstücke, ein bisschen Abenteuer und Platz für neue Ideen.
Die beiden wissen selbst, wie es ist, auf der Suche zu sein. Kohlschmidt, gebürtige Cottbuserin, spürt vor gut zehn Jahren, wie sie ihre damaligen Wahlheimat Berlin beengt. Durch eine Anzeige entdeckt sie das Haus in Klein Priebus. Die Gegend kennt sie von Sonntagsspaziergängen mit den Eltern im Pückler-Park Bad Muskau, von einem Filmdreh bei Görlitz und durch einen Auftrag für eine Ausstellung für die Pückler-Stiftung. Ihren Partner lernt die Kulturmacherin bei der Premiere ihres Films in einem Berliner Off-Kino kennen – kurz vor dem Absprung Richtung Landlust.
Jan Hufenbach, der eigentlich aus Flensburg stammt, hängt in dieser Zeit gerade sein altes Leben als Unternehmensberater an den Nagel.
Es bleibt eine große Leere und eine Einladung nach Klein Priebus, wo die Neiße hinterm Grundstück plätschert. Die Nachbarn heißen die Neuankömmlinge willkommen. Sie spüren, dass ihr Wissen, ihre Tatkraft gebraucht werden. „Wir können uns austoben, Projekte verwirklichen, an denen wir Spaß haben. Wir sind angekommen“, sagt Kohlschmidt.

Die Lausitz ist ideal für den Großstadtmüden

Hufenbach setzt den Blinker. Am Gartenzaun in Neuliebel steht Steffi Tusche mit ihrem einjährigen Sohn Willi auf dem Arm. Im Beet im Garten wachsen dicke rote Rüben, Kartoffeln, Kürbisse und Tabakpflanzen. Für die Bienen gibt es einen blühenden Sommerblütenstreifen, in den großen Sonnenblumen suchen Hummeln nach Nektar. Landlust-Idylle. Ihr Mann Karsten, promovierter Agrarwissenschaftler, betreibt in der Gegend eine Fischwirtschaft und ist seit Mai für die „Wähler in Rietschen“ im Gemeinderat. Er will machen, nicht zuschauen – wie seine Frau. Die Kulturwissenschaftlerin arbeitet für die Gemeinde Rietschen. Längst gehören sie zu den Außendienstlern ihrer Wahl-Heimat.
Ihr Zuhause ist es seit November 2011. Auch ihnen ist Berlin zu voll, zu laut, zu teuer geworden. „Großstadtleben geht auch auf dem Land. Hier ist die Kneipe das Lagerfeuer, das Konzert, die Gitarre. Wir sind immer in Bewegung, haben neue Ideen, wie die Schafe oder den Tabakanbau. Abends fallen wir todmüde ins Bett“, sagt die 35-jährige Mutter von drei Kindern lachend.
„Möglichkeitsräume“, nennt Weißwassers Oberbürgermeister Torsten Pötzsch (parteilos) diese Orte zum Ausprobieren in der Lausitz, weil „die Stadt und die Region mitten im Transformationsprozess sind“. Hier würden große Chancen bestehen, selbst zu gestalten – und dass reize manchen Großstadtmüden. Dazu braucht es aber auch Infrastrukturprojekte, Firmenansiedlungen und konkrete Förderung von Kultur und Sozialem.

Weißwasser ein gutes Beispiel für Lausitzer Freiräume

Die Einwohnerzahl Weißwassers hat sich seit der Wende mehr als halbiert, 16 000 Menschen leben heute noch in der Ex-Glasmacherstadt. Für Kohlschmidt ist sie ein gutes Beispiel für die Lausitzer Freiräume. Es habe sich eine junge Kreativszene und Soziokultur entwickelt. Dieses Jahr laden die „Raumpioniere“ zur Informationsveranstaltung für Rückkehrer und Zuzügler ins Görlitzer Kühlhaus ein. Mehr als hundert Anmeldungen gibt es bisher für das Treffen am 28. September. Das Feuerwehrmobil wird dann auch dabei sein. Zudem sind die beiden unterwegs, um mit ihrem Mobil „Zukunftskino“ auf die Lausitzer Dörfer zu bringen. Erst gibt es einen Film, dann Gespräche. Bei einem weiteren Projekt, dem „Rural innovation summit: Neisse Nysa Synergia“ sollen junge Kreativwirtschaftler aus dem deutsch-polnischen Grenzgebiet an einen Tisch geholt werden. Mit dieser Idee gehören sie zu den Preisträgern des Bundeswettbewerbs „Machen! 2019“.
Bei den Beratungen geht es häufig auch um Politik. Eine der ersten Fragen bei Beratungen sei häufig die nach der AfD, so Kohlschmidt: „Was ist, wenn die AfD regiert? Ein No-go für Städter.“ Abschreckend wirkten bei Neugierigen auch Studien, die raten, siechende Dörfer einfach sterben zu lassen oder jede zweite Klinik im ländlichen Raum zu schließen. Eine Trendumkehr dagegen sieht die jüngst veröffentlichte Analyse des Berlin-Instituts zu „Urbanen Dörfern“. Sie sieht eine Chance im digitalen und flexiblen Arbeiten. Digitale Nomaden könnten in Kalifornien, Kopenhagen – oder eben Klein Priebus arbeiten.

Sachsen investiert in Breitband-Ausbau

Das haben Landkreis und Freistaat erkannt: In den kommenden Monaten werden im Rahmen der „Digitalen Offensive Sachsen“ 18,5 Millionen Euro zum Ausbau der digitalen Breitbandinfrastruktur investiert. Für die über 8100 Anschlüsse werden rund 800 Kilometer Tiefbau und fast 4200 Kilometer Glasfaser benötigt, um auch im kleinsten Dorf mit der großen, weiten Welt Kontakt aufnehmen zu können. Das brauchen die Oberlausitzer „Raumpioniere“. Gut 30 berichten auf der namensgleichen Internetpräsenz vom Ankommen und ihren Projektideen für ein Landleben jenseits der Metropolen.
Zu ihnen gehören Musikarchäologen, Autoren, Musiker, Kulturmanager, Wissenschaftler und Grafikdesigner. Manche davon haben weltweit Jobs, ihr neues Zuhause aber ist das östlichste Sachsen. Wie auch für Kohlschmidt und Hufenbach. Die Kommunikationsprofis sind wieder auf ihren Hof gefahren. Auf dem Gartentisch steht eine Schüssel reifer Aprikosen. Eigene Ernte - und wieder ein Hauch von Landlust. Doch dann geht es wieder an die Schreibtische. Denn mit der Dorf-Idylle verbindet sich auch ganz schön viel Arbeit.