Frau Buser und Herr Irmer, Sie beide haben gemeinsam die Wanderausstellung kuratiert. Um was geht es in der Ausstellung?
Dr. Verena Buser: Der inhaltliche Schwerpunkt der Ausstellung erschließt sich aus dem Titel. Es geht um acht Biographien von Kindern, die den „Verlorenen Transport“ überlebt haben. Der Fokus liegt nicht auf dem Überleben dieser Kinder, sondern auf dem Leben nach dem Überleben. Wie geht man damit um, wenn man als Kind traumatische Ereignisse, wie Verlust der Familie, Mutter, Vater oder Freunde erlebt hat? Wie integriert man diese Ereignisse in die eigene Geschichte? Eine weitere Besonderheit ist, dass wir nicht nur die Überlebenden selbst, sondern auch die Nachfahren der damaligen Kinder, interviewen konnten. Die Geschichte endet nicht mit der Befreiung.
Die Kinderüberlebende haben eine doppelte Last zu tragen. Sie waren selbst Überlebende und sind auch Kinder von Überlebenden. Das wird in der Wissenschaft häufig separat betrachtet: Die Überlebenden und die Kinder der Überlebenden. Diese doppelte Belastung wird in den Zeitzeugeninterviews sehr deutlich. Der Überlebende Moshe Nordheim etwa sagte, wir haben zwar überlebt, aber wir haben niemanden gehabt, mit dem wir darüber sprechen konnten. Das erging vielen Überlebenden so. Aber dadurch, dass die Eltern auch Überlebenden waren, war in vielen Familien gar kein Austausch möglich.
Thomas Irmer: Das Bewusstsein für die transgenerationelle Weitergabe von Traumata ist neu. Erst in den 1990er Jahren begann die Forschung, sich mit der Nachgeschichte und dann mit der zweiten und dritten Generation auseinanderzusetzen. Jahrelang herrschte das Denken vor, ganz salopp formuliert, was haben denn die Nachfahren für Probleme. Auch bezüglich des Themas jüdische Kinder im Holocaust gab es lange Zeit die Annahme, Kinder hätten nichts oder kaum etwas von der Verfolgung mitbekommen, da sie zu jung gewesen seien. Das sind Stereotype, die sich nicht halten lassen, wie auch die Ausstellung zeigt. Die Auswirkung der Erfahrung des Holocausts auf das Leben der Kinder und ihrer Nachfahren sind immens.
Es ist wichtig, die Geschichte und die Familiengeschichte der Überlebenden zu würdigen. Die Ausstellung schafft in der Erinnerungskultur die Möglichkeit, die spezifische Geschichte des Transports und dessen Nachgeschichte wahrzunehmen. Es ist wichtig für die Überlebenden, sichtbar zu werden.
An wen richtet sich die Ausstellung und inwiefern wurde das bei der Gestaltung und der inhaltlichen Vorbereitung berücksichtigt?
Irmer: Die Ausstellung richtet sich an alle – aber insbesondere an Kinder und Jugendliche, da es um Kinderüberlebende geht. Mit der Ausstellung wollen wir ein breites Publikum ansprechen, gerade auch an den Orten, durch die der Transport durchgefahren ist. Das haben wir bei der Gestaltung mitberücksichtigt. Die Texte sind einfach und kurz gehalten. Das ist nicht selbstverständlich.
Sie haben bereits angesprochen, dass Sie für die Ausstellung Interviews mit den Überlebenden durchgeführt haben. Wie wichtig war diese Perspektive für die Ausstellung? Wie kann das Publikum sich mit den Stimmen der Überlebenden auseinandersetzen?
Irmer: Die Perspektive der Überlebenden ist unser Ausgangspunkt. Wir haben vielfältige Formen von Interviews, die man in der Ausstellung und online auf unserer Internetseite ansehen kann. Die Interviewausschnitte, die wir ausgewählt haben, sind sehr aufschlussreich. Jeder Ausschnitt, jede Fotographie, jedes Objekt hat vielseitige Facetten, die die Ausstellung sehr spannend machen. Dabei geht es insbesondere um die verschiedenen Perspektiven der Überlebenden auf ihre Verfolgungsgeschichte.
Die Überlebende Mirjam Lapid sagte: „Die Russen sind unsere Befreier, die Tröbitzer unsere Engel.“ Wie stehen Sie dazu?
Buser: Wichtig ist, die Äußerung von Mirjam Lapid einzuordnen. Es ist ihre Perspektive auf die Ereignisse in Tröbitz. Es ist ein Narrativ, das sie aus ihren persönlichen Erlebnissen heraus formuliert. Die Aussage gilt nicht für alle Überlebende. Es gibt Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, für die die Zeit in Tröbitz ihre Rettung bedeutete. Sie haben viele positive Erinnerung. Aber wir haben durchaus auch Zeitzeugen und Zeitzeuginnen interviewt, die von wirklich negativen Begegnungen sprachen. Hier offenbaren sich die Facetten der Menschlichkeit – im Guten wie im Bösen und in allen Grautönen dazwischen. Das ist das Interessante, was wir in der Ausstellung zeigen.
Darüber hinaus spiegelt sich in Tröbitz exemplarisch die Gesamtheit der Erfahrung der Überlebenden mit der Befreiung wider: ein glücklicher Moment bis hin zur Überlebenden Hannah Pick, die sagte: „Ich habe das gar nicht mitbekommen.“ Bei anderen, wie etwa dem Überlebenden Moshe Nordheim, ist die Erfahrung extrem negativ behaftet, weil sie mit dem Tod ihrer Angehörigen konfrontiert waren. Die Gesamtheit der Stimmen zu hören ist wichtig. Die Befreiung war also nicht nur „großartig“. Das ist eine Verzerrung historischer Ereignisse. Deswegen ist es wichtig, den Menschen, die überlebt haben, zuzuhören: als Korrektiv und als Perspektiverweiterung. Diese Vielfalt der Stimmen und Erfahrung existiert nicht nur bezüglich Tröbitz, sondern auch im Umgang mit den Erlebnissen der Kindheit im Holocaust.
Irmer: Die Überlebenden kamen aus einem absoluten Elend, aus einer Situation des Horrors, des Nicht-Wissen-Könnens, ob man und wer überlebt, des Hungerns und der Quälerei. Der Tod war Alltag und allgegenwärtig. Wenn man aus dieser Hölle kam, war jeder kleine Lichtblick ein überwältigendes Erlebnis. Das schildern auch die Kinder: was es bedeutete, in einem Bett schlafen zu können, Essen und Wasser zu haben oder sich waschen zu können. Das sind Banalitäten, die für uns selbstverständlich sind. Aber für die Kinder war das etwas ganz Großes. Nicht jede Entscheidung, die sie nun in Freiheit trafen, entschied mehr über Leben und Tod.
Die Reaktionen auf die Überlebenden seitens der Bevölkerung in Tröbitz, Schilda etc. war sehr heterogen. Ein Teil war offen, ein Teil hatte erstmal Angst und ein anderer Teil war ablehnend. Es kam jemand, für den man auf Befehl der Roten Armee Platz im eigenen Haus schaffen und den man versorgen musste, wobei man selbst nicht wusste, wie es weitergeht. Aber ein Teil der Bevölkerung setzte sich auch ein und half den Überlebenden, auch über die Anweisungen der Roten Armee hinaus. Es starben einige Personen aus Tröbitz, da sie sich während ihrer Hilfeleistung mit Flecktyphus infiziert haben. Hier zeigt sich die Bandbreite von Reaktionen der einheimischen Bevölkerung deutlich.
Inwiefern war es für die Kinder schwer, wieder in ein „normales Leben“ zurückzukehren?
Irmer: Schwierig war zum Teil, dass andere Kinder die Erfahrungen der Überlebenden gar nicht nachvollziehen konnten. So sprachen Marion Ein Lewin und eine Freundin einmal über das Begräbnis des Großvaters der Freundin. Die Überlebende Marion Ein Lewin berichtet das so: „Meine erste Freundin in den USA berichtete mir eines Tages von dem Tod ihres Großvaters und den umfangreichen Vorbereitungen für die Beerdigung. Ich sagte ihr voller Ernst, dass Amerika ein sehr reiches Land sein müsse, wenn man nur eine einzelne Person bestatte. In der jüdischen Religion würden keine Einzelpersonen beerdigt. Man warte vielmehr, bis Tausende Tote da seien, und dann schmeißt man sie in eine Grube.“ Die Freundin konnte das nicht verstehen. Die Kinderüberlebenden kamen aus der „Normalität“ des Lagers, sie wuchsen mit dem Spiel mit Leichen auf und lernten etwa das Zählen, indem sie Leichen zählten. Sie waren überzeugt, das ist die Welt und konnten gar nicht verstehen, dass andere Kinder nicht die gleichen Erfahrungen gemacht haben. Die anderen Kinder reagierten total entsetzt und konnten die Kinderüberlebenden nicht verstehen.
Buser: Viele Überlebende galten in Israel lange Zeit als schwach. Mit den Überlebenden wurde, wie auch in Deutschland, lange assoziiert, dass sie sich wie die Schafe zur Schlachtbank hätten treiben lassen. Der Umgang mit den Überlebenden in Israel änderte sich erst in den 1960er Jahren. Gleichzeitig wurde sehr stark darauf beharrt, dass man weiterleben, nach vorne blicken und die Vergangenheit hinter sich lassen müsse. Für manche Menschen ist das der richtige Weg, wie etwa für den Überlebenden Celino Bleiweiß. Er sagte: „Ich will eigentlich nicht schon wieder drüber sprechen und auch nicht auf diese Geschichte reduziert werden.“ Der große Teil wurde aber nicht gehört, trotz des Bedürfnisses zu sprechen.
Die Überlebenden blicken heute auf die Vergangenheit zurück und beschäftigen sich damit. Moshe Nordheim sagte etwa, ich war wie ein Tier, wir waren wie Tiere im Lager. Damals, als er als Kind im Lager inhaftiert war, hätte er das so nicht benannt, weil es für ihn die Normalität war.
Wichtig ist außerdem anzuerkennen, dass für Kinder bestimmte Ereignisse wesentlich einschneidender sind als für Erwachsene, wie beispielsweise der Verlust der Eltern oder Geschwister oder von Freunden. Das Vertrauen in die Erwachsenenwelt ging verloren. Die Erwachsenenwelt wurde zu einer überaus bedrohlichen Welt. Diese bedrohliche Welt war alles, was die Kinder kannten. Das ist der Hauptunterschied zu den Erwachsenen, sie kannten die Welt vor der nationalsozialistischen Verfolgung. Die Kinder lebten ausschließlich in dieser Lebensrealität.
Irmer: Für die Kinderüberlebenden war auch die Frage nach der intakten Welt zentral. Besteht diese intakte Welt noch oder nicht mehr? Sind die Eltern oder andere Personen, die mich schützen und versorgen, noch da? Für die Kinder im Lager war diese intakte Welt, die Bezugspersonen, permanent in Gefahr. Diese intakte Welt wurde ständig angegriffen, in Frage gestellt und zerstört.
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